BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Sommer - Herbst»
von Lisa Blausonne
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I.

Sie verläßt ihre Wohnung, und springt die Treppenstufen hinunter, immer zwei auf einmal. Ihre hohen Schuhe machen laute Geräusche, die sie nicht wahrnimmt. Draußen erwartet sie warme Luft, Helligkeit, Lachen vom Eiscafé gegenüber. Es wird Sommer, der sich verheißungsvoll wie immer über das dankbare Land legt. Sie eilt unbeeindruckt durch die sonnendurchflutete Stadt in die Fußgängerzone, ein Packen Zettel unter dem Arm, Ideen zu einer Geschichte für ihren nächsten Artikel. Sie betrachtet sich flüchtig in den spiegelnden Schaufenstern, der Hindu an der Ecke strahlt sie an. Sie hört die Mailbox ihres Mobilfons ab, ein Freund, Schwimmbad. «Jetzt?», denkt sie kopfschüttelnd, fast verärgert. Denn er könnte doch wissen, daß sie besseres vorhat.

Vögel verlassen ihre Bäume, kreisen über Autos und lachen. Weicher Wind trägt würzige Gerüche an die Haut. Kinder schmeißen Steine auf Motorräder, die vor offenen, menschenbevölkerten Cafés stehen. An der Ecke unterhalten sich lauthals alte Frauen und kauen an Äpfeln, die sie vom Markt geklaut haben. Ein braungebrannter Mann verkauft an einem bunten Stand grellgelbe Tücher, die lustig im Wind flattern. In Zeitlupe scheinen Menschen der Bahn entgegenzutreten, die aus der Ferne auftaucht. Für einen Moment hat sie vergessen, warum sie es so eilig hat. Am Kreisverkehr streckt sie die Arme aus und fängt hunderte von hellweißen Pollen auf, die durch die Luft wirbeln. Sie sieht und staunt – mit verstopften Sinnen. Eine Welt steht da und zeigt sich, aber sie ist nicht fähig, teil zu nehmen. «Sommer – plötzlich wieder ein Jahr vorbei!», denkt sie. Und geht in die Redaktion, um zu arbeiten.

II.

Sie fährt mit der Bahn durch das Ruhrgebiet; dumpf schlagen die Äste von Bäumen und Sträuchern gegen die dreckige Scheibe in ihr Gesicht. Sie verursachen Geräusche wie in einem Technosong, langsam, ganz langsam pocht es. Sie rollt vorbei an Industrien, die kahl und bedeutungslos daliegen, dazwischen wie immer graue Straßen und braune Rasenflächen, vorbei an Kindergärten, die jetzt leer stehen, ohne Leben und Lachen. «Leere Kindergärten sind komisch», denkt sie. Es ist nach Mittag – Mittwochnachmittag. Sie hat nichts vor. Geht das: Nichts vorzuhaben? Und: «Es ist ein zuweilen schöner Zustand, einsam und so ohne Verpflichtungen zu sein.» Das ist es, was sie denkt, erleichtert, rollend durch die kühle Stadtluft.

Sie kommt vom Brunch mit Freunden, die zum Abschied in der bunten Tür standen und winkten. Mitten in der Stadt wohnen sie, an der Hauptstraße. Sie wollen da bald weg. Aber jetzt sind sie erst einmal glücklich. Sie haben ein kleines Kind, ein Mädchen mit großen glotzenden Augen. Süß, oder was soll man sonst dazu sagen? Sie sind ein glückliches Paar, reden gerne über ihre Jobs und ihre Wochenendfamilienausflüge. Und über Zukunftspläne: Ein ruhiges Haus im Grünen. Mit Terrasse. «Sie fühlen sich abgesichert», sagen sie. Das Leben ist geregelt. Das sei die Hauptsache in dieser Zeit.

Sie saßen beisammen, aßen die weichen Milchbrötchen und schauten der Kurzen beim Glotzen zu. Die Küche war auch schön bunt, blaue Girlanden hingen da von der Decke, künstliche Rosen klebten neben den Gewürzbrettern und eine Araukarie stand neben einer Azalee am Eingang. Schon alles sehr individuell. «Wir können uns nicht beschweren!». Das machten sie ja auch nicht. Statt dessen gaben sie sich Küßchen und plauderten darüber, wie sie ihre Tage verbringen.

Der Zug hält mitten in der Landschaft. Er hat zu warten. Sie schaut auf den Herbst. Buntes Laub. Auch merkwürdig, daß wir uns darauf verlassen können, daß ohne unser Zutun einfach jedes Jahr buntes Laub auf die Erde fällt. Sie setzt ihre Sonnenbrille auf, weil ihr die Welt da draußen noch nicht dunkel genug erscheint. «Das Bürgerliche, was mag das sein?» Sie knibbelt an ihrem weißen Nagellack, jetzt sehen ihre Nägel aus, als hätten sie einen fiesen Ausschlag. «Vielleicht habe ich nur nicht den Mut, mir zuzugeben, daß ich nicht alleine leben kann. Und rede mir deswegen ein, wie frei ich mich fühle, weil keiner an mir Anteil nimmt. Keiner an mir herumzärgelt.»

Ein oft aufgesagter Lieblingstext: Die eigenen Ideen sind furchtbar wichtig, aufregend, einzigartig. Wichtig für die Selbstverwirklichung. Jeder hat einen ganzen Bauchladen voller Ideen. Da darf kein anderer – auch nicht der andere!– im Wege stehen, aufhalten: Jeder zieht sein ‹eigenes Ding› durch. Da bleibt kein Raum für eine Verzweisamung. Sie denkt: «Selbstverwirklichung ist eine verbrauchte Phrase, ja, ein Fluch, eine Apokalypse. Es wird Zeit, daß etwas anderes kommt.»



Erstellt: 6. Juni 2002 – letzte Überarbeitung: 6. Juni 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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