BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Liebst Du mich?»
von Henriette Orheim & Helmut Hansen
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Wir waren vor ein paar Tagen essen. Abends. In einer Großstadt des Ruhrgebietes. In einem italienischen Restaurant. Es war ziemlich voll. Direkt neben uns setzte sich ein Paar, ein Mann und eine Frau, welches etwa gleichzeitig mit uns ins Restaurant gekommen war. Beide waren etwa Ende dreißig – Anfang vierzig. Sie trug viel Goldschmuck, einen äußerst mondänen und offensichtlich teuren Hosenanzug, und war sehr stark geschminkt. Er trug einen sehr eleganten dunklen Anzug mit ganz feinen Nadelstreifen, und darunter ein dunkles T-Shirt. Die beiden unterhielten sich. Genauer: Sie sprach. Laut. Mit gelegentlichen Pausen, in denen sie etwas aß. Und er sagte – überhaupt nichts. Kein einziges Mal. Wirklich.

Da es auf Grund der räumlichen Nähe zu diesem Paar und der Lautstärke ihrer Äußerungen ganz ausgeschlossen und unmöglich war, wegzuhören, waren wir zuerst etwas irritiert, da wir eigentlich verabredet hatten, über unsere Beziehung zu sprechen. Doch dann, nachdem wir die ersten Sätze – und insbesondere den ersten Satz – mit Staunen vernommen hatten, dachten wir an die schöne Geschichte im Skepsis-Reservat, in der Albertine erzählt, wie sie einmal an einem milden Sommerabend mit ihrem Liebsten ebenfalls bei einem Italiener war und dennoch – selbstlos, und zum Wohle der gesamten Menschheit – als Wirklichkeitsprüferin und Kulturphysiognomin ihre Ohren spitzte.

So erwachte auch in uns plötzlich ein frischer Forscherinnendrang und das Gespräch am Nebentisch erschien uns als ein Geschenk des Forscherinnenhimmels: Da geht man nichts besonderes ahnend essen, hat anderes im Sinn, hat gar komplexe und listige Pläne zur Intensivierung einer Liebesbeziehung, und dann ruft mit Macht die Wissenschaft, wenn das wahre Leben, wie es wirklich ist, direkt vor einem ausgebreitet wird und man es nur aufzuheben und aufzuschreiben braucht. Wir blickten uns an: Für Sekunden waren wir stolz, fast ehrfürchtig: Sprachfiguren wollten notiert, Mythen dekonstruiert, Beziehungsgeflechte analysiert werden. Wir packten hurtig diverse Zettel aus und begannen mitzuschreiben.

Nachdem sich das Paar an den Nebentisch gesetzt hatte, überreichte sie ihm ein kleines schön eingewickeltes Geschenk. Was es war, konnten wir leider nicht eruieren, da er es einfach nicht auspackte. Hier ist ihr Monolog: [1] Im folgenden wird der Monolog genau so wiedergegeben, wie wir ihn verstanden haben. Nichts ist hinzugefügt. Die Pausen sind mit einem «—» gekennzeichnet. Einige wenige Passagen (höchstens drei) konnten wir nicht festhalten, da wir – auf Grund zu kurzer Pausen im Redefluß unseres Beobachtungssubjektes – zu sehr mit Schreiben beschäftigt waren und diese später nicht mehr erinnern konnten.
‹Er› hat wirklich nicht einmal irgendetwas gesagt. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, daß er hin und wieder in seinem Gesicht Zustimmung, Ablehnung oder sonst irgendetwas ausdrückte. Leider konnten wir das nicht sehen, da ‹er› mit dem Rücken zu uns saß.


Sie: «Aber nicht weiterverschenken, hörst Du! — Ach, ich habe so ein zerrissenes Leben. Durch Dich. Hast Du zugehört? — Warum sitzen wir hier? Eigentlich ist das doch sinnlos. — Du bist schon wieder so hektisch. Mußt Du heute schon wieder um zehn Uhr zu Hause sein? — Ich hätte Dich vor 20 Jahren kennenlernen sollen, dann hätte ich gewußt, wie Männer sind. Aber ich bin ein Spätzünder. — Ich habe mich so dick angezogen, hab' nur gefroren den ganzen Tag, das ist die Psyche. Wir heizen, aber es ist die Psyche. — Du wirst nicht mehr so viele nette Frauen wie mich kennenlernen in Deinem Leben. Du brauchst gar nicht abzulenken. Hast Du zugehört? — Du wirst ja zu Hause wie ein Pascha behandelt. Und weißt Du wie ich zu Hause behandelt werde? Wie eine Königin. Wie eine Königin. — Wenn wir so im Restaurant sitzen, kann ich Dir das alles gar nicht so richtig an den Kopf knallen, was Du verdient hättest. Hast Du zugehört? — Du hast ja gar keinen Hunger. — Sehen wir uns denn am Donnerstag nochmal? Kann aber sein, daß ich Dich dann gar nicht mehr sehen will. Dann brauchst Du auch gar nicht bei mir im Geschäft anzurufen. — Ich bin immer unterwegs. Ich bin nie zu Hause. Ich bin aber gar nicht so eine Frau, die immer gerne unterwegs ist. Hast Du zugehört? — Ich hab` mir überlegt, ich muß mal ein bißchen nüchterner rangehen an die Sache mit Dir. Ich habe überhaupt keinen Bock mehr über Deine Frau oder meinen Mann zu reden. Ich hör jetzt auf damit. Ich hör sowieso mit allem auf, vor allem mit dem Reden. Reden bringt nichts, und bei Dir sowieso nicht. Hast Du zugehört? — Ich wußte gar nicht, daß Du so sensibel bist, wo Du doch so abgezockt, so total abgezockt bist. Tut Dir das eigentlich manchmal leid? — Ach, ich würde so gerne mit Dir im Riesenrad fahren. Immer höher. Die ganze Scheiße vergessen. Komm laß uns fahren. — Du bist der unmöglichste Kerl, den ich je gesehen habe. Mein Mann ist überhaupt niemand, aber Du bist unmöglich! Hast Du zugehört? — Mein Mann ist gar keine Null. Das erzähle ich Dir immer nur, um Dir eine Freude zu machen. So bin ich zu Dir. Du bist nicht so nett zu mir. Kennst Du den Film ‹Ein Herz für eine Krone›? Wo sie auf der Treppe sitzt und sich die Haare abschneiden läßt für ihn? Nein, kennst Du überhaupt nicht? Typisch. Den muß man aber kennen als Intellektueller. — Wann sehen wir uns mal ‹Casablanca› an oder ‹Frühstück bei Tiffany›? — Ich könnte Dich ständig angreifen. Soweit hast Du es bei mir gebracht, weil Du mich sowas von Scheiße behandelst. Ich bin so eine liebe Frau, und stehe voll im Leben, und wie behandelst Du mich? Wie ein, wie ein – hast Du zugehört? — Du brauchst mir nicht Deine Lippen zu zeigen, wo ich gestern reingebissen habe. — Also, weißt Du, was ich lange Zeit gedacht habe? Dieser Mann ist so was von nett, daß das gar nicht sein kann. Dann habe ich gedacht, das ist ein Spiel, der spielt mit Dir, der ist zu allen Frauen so nett, erzählt jeder, was sie hören will. Bist Du zu allen Frauen so? Gib es zu! — Schmeckt gut, nicht? Ist das Lammkotelett? Ich dachte immer, da ist so ein Ding dran. — Du hast ganz schön große Ohren, da profitierst Du auch von. — Du bist ein Genießer, nicht? Und ich bin einfach nur frech und falsch, nicht? Sag mal, sind Deine anderen Frauen auch so frech und falsch? — Liebst Du mich?» [2] Vielleicht fragen Sie sich, lieber Leser, liebe Leserin, wie wir bei allem Aufschreiben auch noch etwas essen und eine Flasche Cabernet Sauvignon trinken konnten? Das ist ganz einfach. Nach der Äußerung «Liebst Du mich?» waren wir ganz außerordentlich gerührt und voller – ja, voller Mitleid. Wir dachten an Benjamins Geschichte «Allein unter Menschen» – und an Indras Tochter. Und von da an konzentrierten wir uns auf uns selbst, auf das Essen und den guten Wein. Das ‹Gespräch› am Nebentisch war übrigens nur wenige Minuten nach dem «Liebst Du mich?» beendet und das Paar verließ das Restaurant.
Wir blieben noch ziemlich lange. Denn es wurde ein sehr schöner Abend. Und angesichts dessen, was wir am Nebentisch mit anhören mußten, hielten wir es für völlig überflüssig, über unsere Beziehung zu sprechen und irgendwelche Liebesscharmützel auszuhecken. Wir fragten uns, ob eigenes Glück aus der Teilhabe an der Konfusion anderer entsteht. Wir konnten die Frage nicht beantworten, aber wir waren sehr verliebt.




Erstellt: 8. Januar 2003 – letzte Überarbeitung: 8. Januar 2003
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