BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Neujahr»
von Anna Wiesengrund
Als PDF-Datei laden

Ich wache auf, nach zehnstündigem Schlaf, mit Ringen unter den Augen, die ich mir nicht erklären kann. Der Tag beginnt mit einem stummen Frühstück. Du mußt gleich zur Arbeit, und ich kann noch nicht denken. Ich erinnere dich daran, Obst mitzunehmen, küsse dich und schließe die Tür hinter dir. Seltsam erleichtert darüber, daß du nicht gefragt hast, was los sei. Nun sitze ich da, und lese irgendeinen Artikel über das Weinen, den ich vor Wochen schon aus der Zeitung herausgerissen habe. Ich spüre, daß ich selbst gern weinen würde.

«Ich muß mich bewegen», denke ich, ziehe mir zwei Pullis, eine Mütze und eine dicke Jacke an und gehe hinaus in den Wintersonntag. An den Bäumen fehlen die Blätter, nackt stehen sie da, und ich frage mich, ob sie nicht frieren. Ich gehe vorbei an all den dreckigen Überbleibseln des Feuerwerks, das die Menschen inszenieren, um das neue Jahr einzuläuten. In meinem Kopf schwirr es herum: «2004 - was sagt mir das?» «Mir geht es doch ganz gut.» «Das nächste Jahr wird schon ok.» «Wenn etwas passieren soll, wird es schon passieren.» «Alles wird sich zeigen.» Diese Gedankenfetzen sind so banal, so dumpf, so ungeordnet, daß ich mich für sie schäme.

Ich komme am Fluß vorbei, dessen Oberfläche vollkommen erstarrt ist. Müllreste liegen eingefroren auf dem sich sonst bewegenden Wasser. Kurz hinter der großen Brücke teilen sich Vögel in zänkischer Manier ein noch nicht vom Eis erobertes Wasserloch. Hier hat die Sonne die Macht noch nicht übergeben.

Ein Stück weiter unten am Fluß sehe ich türkische Jungen, die - statt mit Knallern um sich zu werfen - nun allerlei Gegenstände auf den Fluß schmeißen. Doch die Eisschicht ist mittlerweile so dick, daß sie nichts mehr durchschneiden oder brechen kann. Die Risse in der Oberfläche sind nur scheinbare Bruchstellen, die an die Vergänglichkeit des Winters erinnern. Doch ich denke nicht daran, daß diese Erfrierungen vorbeigehen könnten. Ich fühle mich undurchdringlich, wie das Eis auf dem Fluß, mit viel Schlamm und Schmutz im Untergrund, den kein Stein zum Aufwirbeln bringen kann. Ich bin erstarrt und mit der Gewißheit erfüllt, daß unter der glatten Oberfläche etwas ist, was mir Unbehagen bereitet.

Ich gehe weiter am Ufer entlang, werde schneller, überhole die Sonntagsspaziergänger. Ein Mann, der seinen Hund nicht festhalten will, als ich ihn passieren möchte, nervt mich. Mit Angst und Ärger im Nacken gehe ich weiter, immer weiter, bemühe mich, nicht zu viel zu denken. Es regt sich ein Wunsch nach mehr Bewegung in mir, nach schnellerem Gehen, nach Laufen.

Ich laufe. Das Pfeifen des Windes in meinen Ohren nimmt zu. Es ist zunächst unangenehm, aber dann beachte ich es nicht mehr. Der Himmel über mir ist kalt und stahlklar. Keine Wolke bewegt sich, alles scheint Stille und Ruhe zu bewahren. Ich laufe, aber sonderlich beweglich fühle ich mich nicht. Mein Herz klopft vor Anstrengung, mein Atem geht schneller, aber es ist kein ängstliches Atmen mehr, denn jetzt muß ich ja atmen - weil ich laufe, weil ich mich so anstrenge.

Obwohl meine Augen nur Ausschnitte wahrnehmen, und ich die Bewegungen anderer auf meinem Pfad nur noch als zu umschiffende Hindernisse sehe, wird mein eigenes Fortbewegen gleichmäßiger, sanfter und flüssiger. Ich genieße die aufkommende Hitze in meinem Körper. Unter meinen zwei Pullovern und der dicken Jacke wird es feucht, und der Wind kühlt meine warme Hautoberfläche nicht mehr aus. Ich laufe vorbei an Menschen, die mich gar nicht beachten. Ich denke nicht mehr darüber nach, ob sie es komisch finden, daß ich in Jeans jogge. Die Beine wollen manchmal anhalten; die Füße stoßen an die Spitzen der alten Turnschuhe, die ich jeden Tag trage; der Schmerz in meinen Knien sticht wie immer gleichmäßig; doch mein Wille registriert all diese Zeichen nicht, denn mein Körper soll nicht zu Wort kommen. Körper und Kopf sollen stiller und stiller werden.

Ich laufe weiter, über Brücken, über Strassen, immer am Ufer entlang, und höre nur noch mein lautes Atmen. Der Kälte zum Trotz werden meine Glieder immer wärmer und weicher, ich schüttele im Laufen die Arme aus. Jetzt erst bemerke ich, daß die Sonne scheint. In mir breitet sich eine große Zufriedenheit aus.

Auf einem kleinen Rasenstück in Höhe des erfrorenen Wassers bleibe ich zuletzt mit hechelndem Atem stehen und dehne meine Muskeln und Sehnen. Während dieser Übungen sehe ich immer häufiger zum Boden hinunter. Ehrfürchtig berühre ich die Erde, die auch jetzt noch locker und lebendig aussieht. Auch die Birke neben mir wirkt bei näherer Betrachtung nicht mehr tot und ausgezehrt. Es zeigen sich sogar einzelne Knospen am Ende ihrer dürren Zweige. «Irgendetwas ist anders», denke ich, während ich einer Kohlmeise auf der Birke zulächle.



Erstellt: 7. Januar 2004 - letzte Überarbeitung: 7. Januar 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.