BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Zugehörig: Ankunft»
von Lisa Blausonne
Als PDF-Datei laden

Marie holt David vom Bahnhof ab. Es ist kalt und windig am Bahnsteig. Der Zug hat Verspätung. Sie hüpft leicht von einem Fuß auf den anderen - vor Kälte, aber auch vor Aufregung. Die Blume, die sie für David gekauft hat, liegt auf der Bank neben ihr. David und Marie haben sich sechs Tage nicht gesehen. Und sie wissen, daß es wieder nur wenige Tage sein werden, die sie gemeinsam verbringen können. Sie denkt: «Wie oft habe ich ihn nun schon erwartet? Vielleicht zwanzig Mal? Und ebenso oft verabschiedet. Wenn er nicht da ist, gibt es niemand, der mir abends die Haare bürstet, während ich auf der Bettkante sitze und über den Tag plaudere; niemand, der an meinem Tisch in der Küche Sushi zubereitet; niemand, mit dem ich gemeinsam über die komischen Dinge des Alltags lachen kann; niemand, dessen Hand ich beim Aufwachen halte; niemand, für den es sich lohnen würde, morgens Rührei zu kochen; niemand, der meine Raserei beim Arbeiten miterlebt und niemand, der mir Geschichten vorliest, die ihn begeistern.»

Der Zug fährt ein, es ist ein rot-weißer ICE. Die Türen öffnen sich mit einem Zischlaut. Menschen strömen heraus und im Gesichtergewirr erkennt Marie plötzlich den vertrauten Geliebten. Er trägt eine schwere Tasche und eine Mütze. David eilt lachend mit großen Schritten auf sie zu. Als er vor ihr steht, die Tasche fallen läßt und die Arme ausbreitet, laufen ihr Tränen über die Wangen. «Tränen bei der Ankunft», murmelt er, umarmt sie und gräbt dabei seine kühle Nase in ihre langen Haare. Sie erinnert sich daran, wie er sie das erste Mal ebenso umarmte und dabei sagte: «Ich habe den Geruch deines Nackens eingeatmet. Ich werde ihn nie wieder vergessen».

In diesem Moment wird Marie der Vergänglichkeit gewahr, einem Monster, welches die Welt mit seinen Krallen umschlingt. Jedes Jetzt ist im nächsten Augenblick vergangen, und der Mensch, den wir lieben, wird sich morgen schon wieder verändert haben; denn unsere Seele speichert jede Regung und wandelt sich dadurch beständig. Marie wird gewahr, daß sie mit der Gewißheit leben muß, nichts festhalten zu können. Ströme der Zeit und Vergänglichkeit reißen sie mit. Wiederholungen wie die vierteljährliche Veränderung der Bäume, die am Wegesrand ihr Gewand wechseln; Wiederholungen wie dieses monatliche Begrüßungsritual am Bahnsteig lösen bei ihr die Verwunderung aus, daß immer etwas wiederkehrt, welches nicht mehr das ist, was es war. Und Marie fragt sich, wie es sein kann, daß zwei Menschen einen Weg gemeinsam gehen und sich wieder und wieder an die Hand nehmen? Wollen sie der Vergänglichkeit trotzen, indem sie ihre gemeinsame kleine Welt schaffen? Das Staunen über diese stillschweigend mit David geteilte Illusion rührt Marie zu Tränen.

Marie und David verlassen sprechend und lachend den Bahnhof. Nach ein paar Tagen fährt David wieder fort. Doch die Blume bleibt in der Vase auf Maries Nachttisch. Sie blüht sehr lange.



Erstellt: 20. Januar 2005 - letzte Überarbeitung: 20. Januar 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.