BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Zurück zum Fenster›»
von nele
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Der Tag, der deutliche Spuren an meinen Händen und in meinem Kopf hinterlassen hat, verabschiedet sich. Die Sonne erhebt ihre rötlichen Strahlen zu einem letzten kraftvollen Akt des Untergangs. Ich stehe am offenen Fenster und blicke in die Zeit dieser Welt. Meine Blicke verwandeln sich zu leisen Gedanken. Sanft schicke ich sie auf die Reise mit einem treuen Begleiter: «Zur Welt suchen wir den Entwurf, dieser Entwurf sind wir selbst.» Eine Ahnung von solipsistischer Einsamkeit streift meinen Horizont. Ich experimentiere und stelle mir vor, dass die Welt nur durch meine Einbildung existiert. Aber das Experiment scheitert jedes Mal an meiner Unfähigkeit zu assoziieren. Die rötlichen Strahlen der Sonne als Wege zum Ziel einer Erleuchtung hingegen erwecken neue Assoziationen.

Ich beschreibe mein Leben als einen Zug. Irgendwer hat mich hier hineingesetzt, und nun liegt es wohl an mir herauszufinden, wo die Reise hingeht. Ich schaue aus den Fenstern. Keine Station scheint sich zu wiederholen. «Leben ist Zeichnen ohne Radiergummi.» Nichts ist wieder gut zu machen, nichts zu berichtigen. Reisen in Vergangenheiten finden nur im Kopf statt. Und mein Kopf ist voll von Geschichten und Parallel-Universen. Erinnerungen, die mich neu erfinden, werden ständig neu erfunden. Die meisten Geschichten, die mich betreffen, haben ihren Ursprung nicht in mir, leider. Das einzige, was ihnen gemeinsam ist, was sie verbindet, scheint der Geist zu sein, der sie denkt. Ich?

Ich bin einer der vielen Menschen, die aufgehört haben, nach einem Sinn zu suchen. Vielleicht habe ich nie ernsthaft genug gesucht. Vielleicht habe ich nie gewusst, wo ich anfangen soll. Oft ertappe ich mich in einer eigenartigen Ratlosigkeit, in einer nervösen Unruhe, die mich überfällt, wenn ich mich in oberflächliche Gespräche einbinden lasse. Eigentlich müsste da noch mehr sein und ich frage mich, warum ich die Menschen dies oder jenes zu mir sagen lasse. Züge, die nur in eine Richtung fahren, langweilen mich fürchterlich. Dabei sitze ich selbst in einem solchen Zug. Wo ist die Notbremse?

Ich weiß, was Stillstand bedeutet. Es ist der Tod in seiner schwächsten Form, es ist Undurchdringlichkeit und Nichtwissen, Ausweglosigkeit und Ohnmacht, Qual und Dystonie. Das Fundament des Lebens besteht plötzlich aus dünnem Eis, man traut sich weder vor noch zurück zu gehen und betet um Hilfe und darum, dass man gesehen und gehört werde. Wer sieht mich hier? Wer hört mich hier? Gibt es eine Welt ohne diese Gleise? Jenseits der eingefahrenen Gleise leben, das wäre schön. Der Wunsch zieht wie von selbst die Notbremse. Ein Aphorismus von Jean Paul bestätigt den Halt: «Das Leben gleicht einem Buche - Toren durchblättern es flüchtig, der Weise liest es mit Bedacht, weil er weiß, dass er es nur einmal lesen kann.» Dabei bin ich selbst noch immer beim Entwurf meiner selbst. Aber ein solcher Lebensentwurf kann wohl nicht allzu oft verworfen werden. Ich lebe nur einmal - und nicht sehr lange.

Ich versuche auszusteigen - und stürze. Aussteigen habe ich nicht gelernt, denn ich bin noch nie ausgestiegen. «Was das Leben betrifft sind wir alle Amateure, blutige Laien und Anfänger...» Ich springe über eine Unzahl abgefahrener Gleise und beginne zu laufen. Laufen kann ich. Noch einmal drehe ich mich um, beobachte, wie einige Menschen die Züge wechseln. Sie sind zu Springern geworden. Doch ich möchte kein Springer sein. Ich hätte Angst, dass ich beim ständigen Wechseln meiner Haut mein Gesicht verliere oder die Personen in mir nicht mehr antreffe, an die ich mich gewöhnt habe.

Wir sind der Entwurf, den wir zur Welt suchen. Ich finde meinen Entwurf nicht. Endlose Gleise weisen in Richtungen, die immer schon sind. Ich kann nur sagen, dass ich fahre - oder nicht. Ich fahre, also bin ich. Jenseits der Gleise sind unsere Träume, Ahnungen und ein wenig Hoffnung, Unaussprechliches aussprechen und denken zu können. Jenseits der Gleise befindet sich auch das Ufer des Teiches. Dort begegne ich mir, wenn ich mich von der Leine losreiße, wenn ich das Spiel des Lebens neu konzipiere, wenn sich nichts mehr sagen lässt. Jenseits der Gleise ist auch Gott.

Ich schlendere die Gleise entlang auf der Suche nach meinem Zug und beschließe, selbst Zugführerin zu sein und öfters anzuhalten, um über Signale zu lächeln, nach Weichen Ausschau zu halten und liebe Menschen zu finden, die sich von mir mitnehmen lassen möchten - vielleicht nur ein Stück, vielleicht eine ganze Strecke.

Da bin ich wieder an meinem Zug. Bevor ich einsteige, schaue ich von außen durch das immer noch offene Fenster. Es ist Nacht. Hier draußen - und im Zug. Die Finsternis erwacht und spricht zur Stille. Sie sagt, ich sei kein Kind der hellen Tage.



Erstellt: 8. November 2005 - letzte Überarbeitung: 9. November 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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