BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Entbrüderung›»
von nele
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Entschuldigen Sie, was sehen Sie mich so an? Wissen Sie, ich merke das doch, dass mich da jemand die ganze Zeit von der Seite beobachtet, was glauben Sie denn?
... Traurig sehe ich aus? Na ja, das ist ein Friedhof hier, und das hier ist ein Grabstein. Und wenn Sie es genauer wissen wollen: Es ist der Grabstein meines kürzlich verstorbenen Bruders, ... meines Bruders, verstehen Sie. Und ich bin auch nicht traurig, ich habe nachgedacht. Ich meine, hey, haben Sie auf dem Friedhof schon mal jemanden lachen sehen? Ich meine, verstehen Sie, hier ziemt sich das nicht, das ist Ihnen doch klar. Natürlich gibt es auch schöne Erinnerungen an Verstorbene. Aber nein, daran mag ich jetzt nicht denken, verstehen Sie.
... Nein, hören Sie, Sie sind ganz schön neugierig, finden Sie nicht. Ich habe nicht über Vergangenheit nachgedacht. Was soll das schon sein, Vergangenheit. Glauben Sie denn an eine Vergangenheit?
... So so. Vergangenheit ist das, was geschehen ist. Aber wer mag das schon sagen, was geschehen ist? Es passiert doch so viel.
... Vergangenheit ist das, woran Sie sich erinnern können? So, denken Sie. Ja, und was ist mit dem Rest, an den Sie sich nicht erinnern können? Ist das nicht auch Ihre Vergangenheit? Und wenn Sie mir jetzt erzählen, woran Sie sich erinnern, ich meine, Sie könnten mir stundenlang was erzählen, aber ein paar Stunden, an die Sie sich erinnern, das ist doch nichts verglichen mit den vielen Jahren, die Sie schon gelebt haben. Und es passiert hier, die Erinnerung ist doch ein Geschehen im Hier. Vergangenheit ist hier, nicht wahr. Und wären Sie jetzt woanders, dann würden Sie sich an andere Dinge erinnern, da bin ich mir sicher. Was machen Sie eigentlich hier auf dem Friedhof?
... Ach, Sie denken auch nach? Ja, die Stille hier führt einen zu ziemlich abstrusen Erinnerungen und Gedanken. Über was denken Sie denn nach?
... Über Erinnerungen? Sie sind aber schon ein bisschen seltsam ...
... Ach, die Gedanken gehen mit Ihnen spazieren? Wie schön. Und wohin führen sie, wissen Sie das schon? Kennen Sie schon das Ziel?
... Zu mir? Hm. Was soll ich jetzt dazu sagen. Sie machen mich verlegen. Ja, manchen Menschen sieht man an, dass Sie nachdenken. Es kann auch sein, dass die meisten Menschen nachdenken, wenn sie alleine sind, sich nicht von jemandem beobachtet fühlen, durch Sie zum Beispiel. Ja, Sie schmunzeln. Aber irgendwie fühlt man sich doch ertappt. Gedanken sind so intim, meinen Sie nicht? Mir hat es immer schon Angst gemacht, wenn jemand etwas sagte, was ich in dem Moment dachte.
... Über was ich eigentlich nachgedacht habe? Oh, ich habe nachgedacht - über meinen Bruder eben, über meinen Bruder und mich, über unsere Beziehung, wissen Sie. Aber die Geschehnisse rinnen mir wie Sand durch die geschlossenen Finger. Ich, ich habe das Gefühl, dass ich die letzten zwanzig Jahre nur dabei war, die Sandkörnchen zu finden, die Erinnerungen, verstehen sie. Ich habe sie zu einem Klumpen gepresst, damit auch nichts mehr verloren geht. Nur über die Form bin ich mir nie im Klaren gewesen. In der Schule lehrt man die Schüler, Vergangenheit sei eine Frage der Information. Aber ich habe das Gefühl, dass das nicht stimmen kann. Eher ist sie ein Ballon mit viel heißer Luft. Können Sie sich das vorstellen?
... Ja, genau, so stelle ich mir das auch vor. Wer bläst den Ballon auf? Wer schreibt die Geschichte? Der Sieger? Der Geschichtenschreiber? Der Biograph? Die Überlebenden? Wer darf den Ballon halten und seinen Namen darauf schreiben, wer kann ihn zum Platzen bringen. Wer ist der Schreiber? Gibt es mehrere Ballons?
... Was passiert ist? Oh, warum muss denn etwas passiert sein? Da kenne ich Sie gerade ein paar Minuten und sie wollen so etwas Persönliches von mir hören? Ich weiß nicht.
... Was im schlimmsten Fall geschehen könnte? Da bin ich überfragt. Na also, verstehen Sie, Sie werden wahrscheinlich ein paar Fragen stellen und - bisher hat sich einfach keiner dafür interessiert. Sie werden der Geschichte einen anderen Anstrich geben, mich auf Farben aufmerksam machen, hier und da Mängel feststellen. Eine Geschichte ist wie ein Bild, das man nicht jedem zeigen kann. Es gibt immer Leute, die es nicht so gut finden. Manche Menschen schauen sich Bilder an, um danach kritisch daran herum zu nörgeln. Manche wissen es einfach besser, Sie kennen ja diese Art von Menschen. Da gibt es die Logiker, die meinen, hier und da passe etwas nicht zusammen. Da gibt es die Moralisten, die meinen, sie müssten urteilen und Verbote aussprechen. Also, Sie können sich vorstellen, es gibt Künstler, denen macht das nichts aus, aber es gibt auch welche, die hören dann auf zu malen, die komponieren nicht mehr oder wollen es so perfekt machen, dass sie daran verzweifeln, oder gar nicht erst beginnen können. Aber alles braucht seinen Anfang ...
... Nein, nein, Sie haben ja Recht, ich glaube ja nicht, dass Sie zu dieser Sorte von Mensch gehören. Es geht um einen Traum. Nichts weiter. Sind Sie jetzt enttäuscht?
... Ach, Sie können das ja auch gar nicht verstehen. Sehen Sie. Mein Bruder war sieben Jahre älter als ich. Er war mir als kleiner Junge immer schon ein Vorbild. Unsere Eltern hatten sich scheiden lassen, ja, er hat ziemlich viel auf sich genommen. Und Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie lieb er sich um mich gekümmert hat. Wir lebten mit unserer Mutter in einer alten Dachwohnung. Er war sonst ein Rüpel, schlecht in der Schule, spielte mit dem Jagdmesser, das ihm unser Großvater zu seinem 14. Geburtstag geschenkt hatte, indem er die Stubentür zu seinem Ziel erkor und immer mit dem Messer in die Mitte zielte, dann warf er es und freute sich, wenn es stecken blieb. Unsere Mutter war stinksauer als sie von der Arbeit kam. Es gab so viel Streit. Er wollte nicht mehr bei uns wohnen, er wollte zu unserem Vater. Ich glaube, das mit dem Messerspiel war so ein Zeichen dafür. Ich weiß es nicht genau, aber heute habe ich das Gefühl, dass alles, was er damals getan hat, darauf hinwies. Er konnte nicht darüber sprechen. Es war seine Art, das Problem zu lösen. Er versuchte, unserer Mutter klar zu machen, dass er hier nicht hingehörte, dass es nicht gut war, in dieser Familie zu sein. Obwohl wir als Brüder aneinander hingen und er von mir so viel Bewunderung bekam, dass er meinetwegen auf die schlimmsten Streiche verzichtete.
... Der Traum? Ach ja, ich wollte Ihnen ja etwas anderes erzählen. Also, es war kein Alptraum. Was im Traum geschah, geschah einfach so, mein Gott, ich bin kein Traumforscher, kein Psychologe, kein Wissenschaftler. Sie müssen wissen, meine Träume begannen damals immer auf die gleiche Art: Ich erhob mich langsam aus meinem Bett, öffnete die alte Holztür zum Korridor, lief langsam auf die Treppe zu, fasste mit der rechten Hand an das Geländer und ließ mich absichtlich herunterfallen - schmerzlos. Es wurde dunkel und nach ein paar Sekunden, so schien es, begann der eigentliche Traum. Manchmal überlegte ich mir beim Sturz schon etwas, was ich gerne träumen würde. Diesmal tat ich das nicht. Also ließ ich mich von meinem Traum ziehen. Ich war in dem gleichen Haus, dessen Treppe ich also hinuntergestürzt war. Ich stand vor der Haustür, hörte Schreie und Schüsse, öffnete die Tür und sah Menschen durcheinander rennen, ein Freund kam auf mich zu und versuchte mich aus dem Haus zu ziehen. Wir rannten über Straßen, verbarrikadierten uns hier und da, kamen unverletzt zu einem anderen Haus und suchten darin Schutz. Als wir die Tür öffneten, sah es im Haus genau so aus, wie in dem, aus dem ich geflohen war. Aber es war dunkel. Im Flur lagen Tische, Stühle und Schränke herum, hinter denen sich Menschen versteckten. Obwohl wir die einzigen waren, die hereinkamen und mitten durch das Schlachtfeld liefen, schoss keiner. Statt umzukehren und einen sicheren Ort zu suchen, krochen wir hinter einen umgefallenen Tisch und beobachteten das Geschehen. Plötzlich wurde geschossen. Ein paar Leute fielen um und verschwanden nach ein paar Sekunden, waren einfach weg. Es folgten Stimmen, ob das endlich alle gewesen seien. Mein Freund und ich waren still, rührten uns nicht. Ich bekam Angst. Plötzlich erschien mein Bruder, er stand mitten im Flur und schaute zu denen, die geschossen hatten. Dann hob er langsam den Arm und zeigte auf mich und meinen Freund. Er rief: «Dort sind noch zwei, dort hinter dem Tisch!» Wir wollten aufstehen und weg rennen, aber meine Beine bewegten sich nicht. Mich packte die Verzweiflung, ich konnte einfach nicht fort. Da stand mein Bruder und hielt immer noch den Arm auf mich gerichtet und mein Freund - wo war bloß mein Freund? Die Männer kamen auf mich zu, zielten und schossen. Das war mein Traum. Ich wachte auf, hatte Tränen in den Augen und fing an zu weinen, ich weinte lange. Mein Bruder hatte mich verraten.
... Ja, damals machte mir das schon zu schaffen. Ich war ja noch ein Kind. Natürlich konnte ich Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Aber irgend etwas in mir - ich war sauer auf meinen Bruder, verstehen Sie. Und damit fing es an. Dieser Traum war, wie sagt man so schön - er war der Anfang vom Ende, ja. Ich erzählte meinem Bruder nichts davon, keinem erzählte ich je davon. Es war mir peinlich. Stellen Sie sich das mal vor! Da kommt jemand zu Ihnen und erzählt, dass er wütend und traurig auf jemanden ist wegen eines Traumes! Den hätten Sie doch verlacht und nie mehr ernst genommen! Nein, also damals war das nicht sagbar. Aber seitdem ist mein Bruder ein rotes Tuch für mich gewesen, ein Verräter. Ich erfand immer wieder Gründe dafür, warum ich ihn nicht mehr leiden konnte, obwohl ich ja wusste ... Ach, warum erzähle ich Ihnen das nur ...
... Was dann geschah? Wir verstanden uns nach einiger Zeit nicht mehr. Unsere Mutter hatte einen Grund mehr, ihn ins Kinderheim zu stecken. Ich begann obendrein Lügen über meinen Bruder zu erzählen. Manchmal weinte ich auch darüber. Aber das Verhalten meines Bruders bestärkte mich nur noch: Er war nicht traurig darüber, sondern er begann sich auf seine Art zu wehren. Er riss von zu Hause aus und kam erst spät in der Nacht wieder. Oft fuhr er mit dem Fahrrad kilometerweit in das nächste Dorf zu unserem Vater und übernachtete dort. Unsere Mutter war nur noch damit beschäftigt, dass er wieder nach Hause kam. Ich blieb links liegen und begann ihn dafür langsam zu hassen. Ein Jahr später entschied das Jugendgericht, dass unser Vater das Sorgerecht für ihn bekam. Das war kein Traum mehr. Diesmal lief er wirklich zur anderen Seite über. Ab diesem Zeitpunkt sahen wir uns nur noch zufällig. Unsere Mutter hatte ihren Sohn verloren und ich meinen Bruder. Nein, wir waren keine Brüder mehr. Ich ging irgendwann meine eigenen Wege. Und nun, tja, nun stehe ich hier und denke nach, ob ich hier stehen würde, wenn das damals nicht passiert wäre. Er hat die Schule geschmissen und bekam einen Job in einer Holzfabrik. Und er trank, er trank so viel wie unser Vater. So viele Leute haben mir davon erzählt. Es war ein Autounfall, er feierte seinen Geburtstag in der Dorfkneipe, und fuhr tatsächlich die paar Meter volltrunken mit dem Auto. Vor ein paar Wochen noch habe ich gehört, er hätte geheiratet. Und gestern erst hat mich meine Mutter erreicht und geschildert, was passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich mich bei der Trauerfeier hätte sehen lassen können ... Das ist die Geschichte. Hm, Sie schauen ganz entsetzt. Entschuldigen Sie, ich wusste ja nicht, dass ...
... mein Leben und das meines Bruders in die Form eines Traumes gepresst? Hören Sie, wenn man Kind ist, geschieht so viel willkürlich, da hat man keinen Einfluss darauf. Natürlich bin ich jetzt erwachsen ...
... Später? Was geschehen ist, ist geschehen. Was soll ich denn jetzt noch herumbiegen ...
... Was ich vorhin erzählt habe? Aber was hat das denn jetzt damit zu tun?
... Ja, Vergangenheit ist im Hier, sie ist der Rest dessen, was geschehen ist. Sie ist Erinnerung und sie ist abhängig vom Ort, ja, auch von demjenigen, dem man es erzählt. Wenn ich später meinem Bruder diese Geschichte erzählt hätte, der hätte mich nicht einmal mehr angesehen. Wie stellen Sie sich das denn vor? Hätte ich zu ihm gehen sollen: Hallo, wollen wir wieder Brüder sein?
... Ich weiß nicht. Ja, alles braucht seinen Anfang. Das habe ich vorhin gemeint. Aber vielleicht gibt es manchmal einfach keinen Ansatzpunkt für einen Anfang. Er kam ja auch nie zu mir. Er hat mich nie danach gefragt, warum ich mich damals plötzlich so von ihm abgewandt habe. Nach einer gewissen Zeit weiß man eh nicht mehr, wo und wie alles begonnen hat. Es war einfach so. Anfänge sind vielleicht auch Erinnerungen, die man vergisst. Dann haben Geschichten keinen Anfang mehr und man müsste ihn neu erfinden.
... Natürlich habe ich manchmal darüber nachgedacht, wie er das wohl heute selbst sehen würde, wie er sich erinnert, oder wie er seiner Frau beibringt, dass er einen Bruder und eine Mutter hat, mit denen er aber seit Jahren keinen Kontakt mehr pflegt - und dass ihn das vielleicht zerrüttet hat.
... Also, wenn Sie nun die Frau meines Bruders wären - ich hätte Ihnen das nie erzählt, womöglich hätten Sie mich mitverantwortlich gemacht für sein Alkoholproblem und für seinen Tod.
... Ach, Sie sind die Frau meines Bruders.



Erstellt: 12. Dezember 2006 - letzte Überarbeitung: 13. Dezember 2006
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