BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Tod des Autors›»
von Lou C. Orange
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Wir leben nicht, sondern wir
versuchen, zu einem Ende zu
kommen. Und nur der Poesie ist es
zu verdanken, in dieser Welt
überhaupt sterben zu können.
Aber als was?

Wie bin ich gemeint?
Wie kann ich gemeint sein im großen Rauschen der ununterscheidbaren Unterschiede? Wiedererkennen während eines winterlosen, warmen Waldspaziergangs im Januar. Durchatmen. Die Stille verstummt -
Was hindert mich an mir?

All die Tage der Beklemmung. Sonnenbeschienen, bewölkt, windig. Kein Ausweg aus der Lebensmüdigkeit. Die Trauer bleibt ohne Inhalt. Die Choreographie der Empfindungen muss ständig neu eingeübt werden, weil sie ihrer selbst stets überdrüssig wird. Sobald Empfindungen zur Sprache kommen, werden sie oberflächlich und jedweden Deutungen ausgesetzt, die deshalb in der Untiefe verharren müssen, weil ihrem verbalen Stoff jegliches Bestreben nach Tiefsinn versagt ist. Der Inhalt dessen, was ausgesprochen wird, bleibt auf immer verhüllt. Empfindungen scheinen Phantome zu sein. Sie sind sprachlich nicht fixierbar, sie entfernen sich eher als dass sie zum Vorschein kommen. Sie entgleiten selbst dem zaghaftesten begrifflichen Wimmern. Gedankenlos soll man sich ihnen ergeben. Sie bitten um einen Tanz, sie bitten nicht um Führung. Nichts ist subjektiver als der Schmerz, der nicht nach Ausdruck schreit, der in sich pulsiert und durch sich selbst ist. „Zeit heilt Wunden“ - sagen die Leute, die Münder zu müden Mumien minimalisiert. Gemeint ist wohl das Vergessen, das endliche Vergessen, das sich sanft und unmerklich über diese Wunden legt, denn im Gegensatz zu den Menschen ist das Vergessen nicht so aufdringlich. Aber es sind nicht die Wunden, es ist der Schmerz. Und was ist mit dem schmerzenden Makel, welcher dem Heil, der Zeit, dem Vergessen entsagt? Wenn er zum Begleiter wird, zu einem dauerhaften phantomhaften Delirium, zu einem subjektlosen offenen Geheimnis? Wenn jedoch das Phantom verschwindet, dann bleibt nur noch die Wirklichkeit im abstrusen Alltagsgewand, sie erscheint unwirklich und bezugslos als zynisches Gelächter. Können Empfindungen die Wirklichkeit enthüllen? Wir könnten sie aus ihrer bloßen Funktionalität herausholen, nach ihnen suchen, ununterbrochen, mit jedem Atemzug, sie vermehren, sie zum Firmament der Poesie werden lassen – oder meditieren.

Vor der Zeit kamst Du zur Welt – und zu Dir. Du wurdest unter einem eigenartigen Stern geboren, nämlich dem der Geburt selbst. Mit nichts als diesem Ereignis wurdest Du in unsere Welt geworfen. Wir hätten es besser wissen sollen. Denn das ersehnte Licht erlosch auf der Suche nach sich selbst.
Was dachtest Du? Was dachten wir? Was haben wir Dich denken lassen? Dass ein Du schon genug war?
Doch da gab es nichts als die großen Gesetze und Regelmäßigkeiten, an denen Deine Gedanken mit aller Wucht zersplitterten. Diktatur der Gewohnheit. Und stets tauchte Sisyphos aus der blutigen Scherbenflut empor, verneigte sich und verschwand in seinem und allem Anschein nach auch Deinem Fluch. Und wieder begann das Schreiben von vorn – für die nächste große Zerstörung, den nächsten Gruß, die nächste Zerstörung, den nächsten Gruß... Du warst bereit, alles für neue Geburten der welken Blätter und Blumen zu geben, der verbrauchten Worte, der alten Gesichter, der abgenutzten Ideen. Gott, wie lange Du für die Himmel gebraucht hast! Und keiner hat standgehalten, alle sind sie eingestürzt, alle über Dir, Deinem erschütterten Körper. Jeden von ihnen hast Du überlebt. Und mit jedem Sturz bist Du um Jahrzehnte gealtert, ohne Deinem eigenen Sterben gewahr zu werden.
Unzählige Male kehrtest Du nach der großen Vernichtung die Opfer zusammen und erschufst daraus ein neues Mosaik, ohne jegliche Systematik erschufst Du es: Je häufiger die Welten zu Bruch gingen, je intensiver gingst Du zur Geburt der nächsten über, fließend, Sisyphos nur noch flüchtig wahrnehmend, den Fluch vergessend, keine Menschenseele kennend, denn Du befürchtetest, dass dieser Wahnsinn durchaus ansteckend sein konnte. Dieser schien Dir über Jahre eine besonders gemeine Eigendynamik entwickelt zu haben. Und so hegtest Du langsam den Verdacht, dass all Deinen Werken das Scheitern schon immanent war. Sisyphos verschwand immer schneller, seine Grüße verwandelten sich in schmale Handzeichen, in minimale Symbole eines völlig übermüdeten Versagers, welcher den Jahrtausende alten Überlieferungen über sich nur noch mit Verachtung begegnen konnte. Der Wahnsinn hatte Euch im Schlepptau, getarnt als selbst zerstörerische Akribie.
Zusehends gingen Dir in Deinem hektischen Treiben nach und nach Teile verloren. Geradezu zwanghaft trieben Dich die Qualen über den Verlust in den absurden Wunsch, endlich sprachlos zu werden – ohne ein Wort zu verlieren.

Aber was bedeutete das schon angesichts all der Wörter, die wir längst schon verloren haben, weil wir nicht achtsam genug mit ihnen umgegangen sind? Ihren Bedeutungen völlig entsagt, schwirren sie als Halbtote durch unsere geistlosen Köpfe. Sie haben ihr Werk getan. Sollen sie ruhen?
Als Schreiber kann man sich auf verschiedene Weise von sich verabschieden. Man verstummt, man verändert seinen Namen, man sieht tatenlos zu, wie die eigenen Werke verbrannt oder wie sie instrumentalisiert werden für Himmelsgewölbe, grau in grau, mit jedem Einsturz unzählige Leben unter sich begrabend. Das Alte begräbt sich stets mit den Monstern, die es selbst erschuf. All die Gesichter, denen wir uns nach und nach ergeben, nur um das eine nicht zu verlieren, das wir zu haben glauben – all die Gesichter sind es, die uns zu verwirren drohen. All die Monster, die wir erschufen und denen wir nicht gewahr werden, denn wir hassen es, uns als Fratzen im Spiegel zu begegnen. Würden wir es nur einmal riskieren, um einiges wären wir klüger, denn all diese Gesichter entstehen aus uns vertrauten Zügen.


Es war die unendliche Langeweile, Deine Unfähigkeit, die Welt interessant erscheinen zu lassen, ohne Dich selbst dabei hintergangen zu fühlen. Im Sprung aus dem Nichts in den schmerzhaften Wahn einer Welt, in der Du Entscheidungen selbst treffen musstest, aber nicht konntest, wurde das Wichtige schon längst ohne Dich entschieden. Der Rest war peinliche Suche. Der Rest machte sich bemerkbar in einem großen Rauschen, einem Wimmern der verloren gegangenen Bedeutungen, einem Rauschen, das zum Rausch werden konnte, hättest Du doch das Stöhnen erst einmal wahrgenommen. Denn die Wörter starben. Du gingst ihren vielfältigen Seelen nicht mehr nach.

Die Seele eines Wortes besteht in seiner Bedeutung, in dem, was es nicht ist, in dem, was wir dem Wort schenken müssen, in der Hoffnung, dass es uns erfüllt. Doch die Wörter werden gefühllos aneinander gereiht und zur Ausdruckslosigkeit verdammt. All die Taten werden Opfer der eisigen Kälte, die es dem Feuer der Neugier wahrlich erschwert, unbefangen weiter zu lodern.
Nicht dass man ohne Metaphern schreiben könnte. Selbst der stumpfsinnigste, realistischste Schreiber lebt in der Wüste seiner Versprachlichung von kleinen Quellen, die längst versiegen, da sie von jedem aufgesucht werden – benutzte Frische.


Die Quellen verrannen, so wie Du ihnen entrinnen wolltest. Irgendwann hättest Du den roten Faden verlieren müssen, absichtlich. Besser noch: Ihn zerreißen, dass er Dich nicht mehr verfolgen und die Gedankengänge auf seine Richtung verweisen kann, auf seinen Ursprung und auf sein Ziel. Du hättest Dich Deines eigenen Ursprungs berauben müssen. Vergessen wir die alten Märchen nicht: Hänsel und Gretel haben nicht zurück gefunden – und sind reich geworden. Da standest Du mit Deinem Ich und dachtest, das sei alles, worin Du suchen müsstest. Doch da war nichts. Wir wissen es jetzt, da war nichts als ein roter, dünner Faden, der ein Du schrieb. Dein letzter Gedanke konnte nicht Dein eigener sein.

Gibt es einen letzten Gedanken? Gibt es einen letzten Schmerz? Man müsste den eigenen Schmerz als Selbstversuch auf die Spitze treiben, um ihm diesen letzten Gedanken abzuringen. Was sind die letzten Bilder, die letzten Wörter vor dem Reich des Nichtwerdens? Ist es vielleicht nur eine anonyme wissende Träne gepaart mit einem isolierten Fragezeichen? Weinen in einer Zeit, in der kein Mensch diese Tränen je noch verstehen würde, sie wären zu den oasenlosen Wüsten und gleichzeitig zur Ehrlichkeit verdammt, umsonst wären sie nicht. Und vielleicht sind wir dann am Ehrlichsten, wenn wir uns schämen, wenn wir den Gesang beenden und uns den letzten Ton für das Sterben aufheben, das diesen Ton verdient.

Ich habe Dich getroffen, vor der geteilten Zeit. In der Mondsichel hast Du gelegen, bist unserer Welt entschlafen. Sie hat es nicht geschafft, Dich bei sich zu halten. Du hast es nicht geschafft, sie bei Dir zu halten. Und als der Tag ging, da gingst Du mit ihm. Dein Leib klagte über die schwarze Asche, die Dir Deine Träume unter den verdorbenen Seelenbrei mischten. Nun gleiten sie leer und ausgebrannt über die ertrunkenen Ufer ihrer unsichtbaren Bilder.
Schadenfrohe Seiten der Bücher – leer sind sie endlich. Ein Buch ohne Wörter verstehen, das wäre Dein Ziel gewesen, in leblose Müdigkeit gleitend die Herrlichkeit dieser Welt zu Ende träumen.

Den Sturz gar nicht mehr wahrnehmen, sich im Fall vergessen und den Aufprall feiern, den Punkt unterstreichen. Denn der Tod ist nicht die Kehrseite des Lebens. Der Tod ist der Punkt am Ende eines Satzes. Bei vielen schließt er den Satz einfach nur ab, er ist nichts sagend, wie der Satz selbst. Bei den wenigsten gleicht der Punkt einer Brücke, die den Satz zu einem Aphorismus werden lässt.

Du hast Dich nicht getraut, Dich dem Aphorismus zu nähern. Bestaunt hast Du ihn, aber aus Deinem Versteck konnte er Dich nicht locken.
So tapptest Du unter dem finsteren Horizont und wolltest selbst die Sonne sein. Nach Totenköpfen grubst Du und entstandest aus Deinen eigenen Dummheiten, ein Engel ohne Flügel. Die Sterne führten Dich in die Irre, die Gräber schmeichelten Dir. Und während alle im Gleichschritt gingen, betetest Du Dich zur Hölle hinab und kamst stets da an, wo Du eh schon standest, die Gedanken frei im Raume, nur Du warst es nicht. Tief schlummerte der kleine Vogel. Du öffnetest seine Flügel, doch er fühlte Dich nicht.
Als totes Blatt Papier, beschrieben mit Deiner Biografie, wehte Dich der Wind der Vergänglichkeit fort aus dem Leben. Ohne eine Träne und ohne ein Wort über Deine unvollkommene Scham.

Wie bin ich gemeint? Als Ton, als Wort, als Blick, als Reisende auf einem einspurigen Gleis, als Du, als Ich?
Kein Ausgang.



Erstellt: 4. Februar 2008 – letzte Überarbeitung: 6. Februar 2008
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