BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Der Brief›»
von Lou C. Orange
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Du kannst die Glocken hören, die ihre Töne sanft in Deine Gedanken legen. Sehnsucht. Der Federhalter schmilzt die Tinte ins Papier für ein ewiges Lied, dessen Melodie Dich durch verlorene Gassen schickt, die nach Rosen und Zitronengras duften. In Zeitlupe hebst Du Deinen Kopf zu einem kleinen blauen gelangweilten Fenster unter dem Dach eines alten Fachwerkhauses, das zum Sommerklavier vergessene Träume summt. Deine Blicke gleiten durch die Luft. Ein Sonnenstrahl ruht neben flinken Kinderhänden, die auf den Tasten von einem Übermut getrieben werden, der noch keine Fehler kennt.

Nichts ist wesentlich.

Im Gesicht der kleinen Freundin vergnügt sich eine dunkelblonde, verschwitzte Strähne, die auf der Nase kitzelt und sich in der Zugluft trocknen möchte. Ein Kätzchen lugt auf dem Fenstersims neugierig den Tauben entgegen. Die großen runden nichts ahnenden Augen wenden sich immer wieder in das Innere des Zimmers, ruhen kurz auf dem Gesicht des Mädchens und auf den halb geschlossenen Augen, schnell gleiten sie dann zu den Fingerchen, um sich darauf hin wieder dem aufgeregten Treiben der Tauben zuzuwenden.

Alles für sich, alles in Frieden, alles verschieden, alles vertraut.

In der bunten schattigen Küche brabbelt ein aufgeregtes kleines Brüderchen spielend auf dem Fußboden, der die großen freundlichen Glasmurmeln an hinterhältige Orte schickt und für ein hin und wieder aus dem Nichts auftauchendes unüberhörbares Schimpfen verantwortlich gemacht werden muss, das aus dem Mund des kleinen Spielers ertönt, und dessen Gesicht der Willkür des Bodens mit seiner Verfärbung droht und dessen Stimme mit ihrer Lautstärke. Das spröde Linoleum indes schweigt leicht genervt und beobachtet eine nachdenkliche Mutter an einem weiß lackierten stolzen Holztisch. Ihre besorgten Augen gleiten über die gleichmäßigen Zeilen eines langen Briefes und eine Träne verschafft sich Zutritt zum nicht Sichtbaren. Ohne zu fragen, verschmiert sie dreist einen bereits gelesenen Satz und das PS bis zur Unkenntlichkeit und wird mit dem Austrocknen bestraft.

Und die Glocken schlagen zur Trauer um die Träne, während die Kinderhände der kleinen Freundin keine Fehler kennen, der Linoleumboden der Küche keine Schuld und das Kätzchen sich über das Fliegen wundert.

Dein Kopf bewegt sich weg vom kleinen blauen Fenster, es riecht nach Rosen und Zitronengras, die Pflastersteine wollen endlich Beachtung finden und Deine Hände halten einen schwarzen Federhalter. Die mit dem Papier verschmolzene Tinte klebt an Deinen Fingern und die Schritte hindern Dich durch ihre Zögerlichkeit. Du verlässt sie und gesellst Dich zum harten Pflaster, das jeder Regung lauscht und zum Schweigen verdammt ist. Du wirst die Dinge nicht zum Sprechen bringen und von den Menschen möchtest Du keinen Ton mehr vernehmen.

Die Sehnsucht verstreicht. Der kleine Bruder verstummt, die kleine Freundin schaut mit dem Kätzchen aus dem Fenster, die Tränen der Mutter lösen die Wörter vom Papier, das sich voller Entsetzen wellt. Die Tauben gurren ignorant im gewöhnlichen Stil, die Gerüche schwinden mit dem Verklingen des Sommerklaviers.

Eine Schublade öffnet sich. Ein letztes Schluchzen. Dann fällt der Schuss. Etwas fällt zu Boden.

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Du kannst die gewaltigen Glocken hören, die Deine Gedanken zu Fall bringen. Der Federhalter schmilzt die Tinte ins Papier für ein ewiges Lied, dessen Melodie Dich durch gefährliche Gassen schickt. In Zeitlupe hebst Du Deinen Kopf zu dem kleinen blauen Fenster unter dem Dach eines alten Fachwerkhauses, das zum fehlerhaften Spiel eines ungestimmten Klaviers schluchzt. Das fahle Mondlicht ruht auf Kinderhänden, die den Tasten ihr letztes Stück verkünden.

Nichts ist wesentlich.



Erstellt: 25. April 2009 – letzte Überarbeitung: 27. April 2009
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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