BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Die lange Leine›»
von nele
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Auf dem langen, gesprächigen Weg von der Uni zum Bahnhof lasse ich mich langsam durch die Menschenmassen gleiten und von den schnell daher gesagten Wörtern und Floskeln, den eilenden Blicken treffen, die sich durch die heiße Großstadtluft zu mir retten. Ich wünschte, ich hätte kein Ziel und etwas könnte mich hier halten - zeitlos und staunend darüber, dass anscheinend alles so reibungslos funktioniert. Wer oder was spinnt hier die Fäden? Wichtiges geht unter im Unwichtigen, Lachen verschwindet im Spott, das Laute vernichtet das Geheimnisvolle, Entschuldigungen weichen dem Aufgeregten.

Es wird beobachtet und gegafft, verweilt und sich gelangweilt, man eilt und ist hektisch, ruhige Plätze sind mit aufdringlichen Handymissbrauchern besetzt, für die Einnahme diverser Nahrungsmittel scheint jeder Ort der richtige. Schülergruppen auf dem Heimweg versuchen sich zu übertönen, Fahrradfahrer veranstalten anonyme Wettrennen mit dem roten Männchen der Fußgängerampel, alte Menschen mit Gehhilfe vermeiden den enttäuschten Blick in die ignoranten Massen und richten ihre Brillengläser auf das verschmutzte Bordsteinpflaster, doch die Wunden unter diesem Pflaster werden niemals heilen.

Menschen, die auf ihre Verabredung warten, stehen vor genervten Schaufenstern, in die sie hin und wieder einen interessierten Blick werfen, um zu sehen, ob ihr Spiegelbild mit ihrer Vorstellung von ihnen selbst übereinstimmt. Ein gehbehindertes Mädchen stolpert schlimm und darf sich von seiner Mutter anhören, dass es doch endlich mal richtig laufen lernen solle. Diese mitgefühlslose Gestalt geht Hand in Hand mit ihrem Mitläufer, der offenbar nur sich selbst in der Welt erfahren hat, weil er die ganze Zeit von nichts anderem reden kann.

Plötzlich Schreie von irgendwo her, lautes Getuschel: «Die schon wieder, wann sie die nur endlich weg sperren. Da kriegen die Kinder doch Angst!» Die Frau, ordentlich gekleidet, stark geschminkt, Ende vierzig vielleicht, hält in jeder Hand zwei Einkaufstaschen, dreht sich tanzend um sich selbst und schreit laut unverständliche Sätze, die sich an niemanden richten, die verklingen, die niemanden treffen - niemanden, weil sie keiner versteht.

Ein kleines Mädchen steht mit einem kleinen Hündchen an einer Haltestelle und weist ihn ordentlich an, dass er zu sitzen hat, während sie steht. Der kleine Hund ist gehorsam und sieht mit melancholischem Blick dem Freiheitsflug der Großstadttauben hinterher. Blicke sprechen auch, als mir jemand den ‹Wachturm› anbietet. Schluss mit Überwachung, denke ich, als ich den Bahnhof betrete und mich die strafenden Augen der Überwachungskameras etwas anderes lehren wollen.

Es funktioniert, die Fäden sind gesponnen, jeder glaubt an die überwachenden Blicke der anderen. Man weiß, wie weit man gehen kann, wie tief man sinken darf, wie gerade man sich halten soll. Das Panoptikum, das Foucault beschreibt, ist - perfekt. Aber diese Wahnsinnige, denke ich, die ist raus aus dem Spiel, die hat es geschafft. Die hat sich losgerissen von der Leine und ‹irrt› allein durch die Welt, weil sie nun gar nichts mehr mit den anderen verbindet. Ob sie sich wohl danach sehnt, wieder angebunden zu werden? Und wenn die Leine ganz lang ist?



Erstellt: 15. Juli 2005 - letzte Überarbeitung: 15. Juli 2005
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