BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Welcher Weg?»
von Lisa Blausonne
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Entscheidungen werden logisch erklärbar gemacht, so wie meist alles in der Ingenieurswelt, der Erschaffenswelt der Brückenbauer und Manager, erklärbar erscheinen soll. Nachher, wenn durch eine Entscheidung entsprechende Resultate erbracht wurden, sagen Menschen gerne: «Es war auch so ein Gefühl dabei». Sie addieren das Gefühl wie einen Beigeschmack hinzu und negieren, dass ein Gefühl auch Auslöser für eine Entscheidung sein könnte.

Ich sitze in einem Zug und fahre nach Hause, nach Hamburg. Der ICE fährt rasch durch das Land, draußen ist es bereits dunkel. Ich sitze im Bordrestaurant und schaue auf die Menu-Karte. Ich komme von einem Treffen mit Managern, so genannten relevanten Entscheidungsträgern eines Großkonzerns. Ich denke an die Manager, wie sie sich äußerlich ähneln, und an die vielen Argumente, die sie vorgebracht haben, damit ich mich logisch entscheiden kann. Hinter mir bestellt ein Herr bei der netten Dame vom Bordrestaurant «Roulade, ohne Drumherum. Nur das Fleisch, bitte». Diese Äußerung macht ihn mir sogleich unsympathisch, reiner Fleischverzehr erinnert mich an archaisches Verhalten.

Entscheidungen werden durch Bilder beeinflusst und von Emotionen begleitet, die sich nicht ausblenden lassen. Menschen, die keine Emotionen empfinden, sind vermutlich nicht fähig, Entscheidungen zu treffen. Diese Erkenntnis aus der modernen Neuropsychologie, selbst ein Fach des Faktischen, hat mich nachhaltig beeindruckt. Einem Mensch, dem es nach einem Unfall nicht mehr möglich war, Emotionen zu empfinden und zu zeigen, war es plötzlich ebenso unmöglich, Entscheidungen zu treffen. Selbst bei unwesentlichen Alltagshandlungen kam er nicht weiter. Zum Beispiel zerbrach er sich stundenlang den Kopf bei der Frage, ob er einen roten oder grünen Stift zum Schreiben wählen sollte, denn es gab keine logische Erklärung dafür, welchen Stift er nehmen sollte. Normalerweise entscheiden Menschen diese Dinge aus einem Gefühl, einem Geschmack, einer Laune heraus. Wir entscheiden meist zwischen zwei Wegen oder Dingen, wir scheiden zwei Dinge voneinander, wir treffen einen Unterschied und suchen eben jenen Unterschied, der für uns in einer bestimmten Situation Ausschlag gebend sein könnte.

Ich wähle einen harmlosen Salat und während ich auf das Essen warte, gehen mir die Argumente für oder wider einen Wechsel zu dem Großkonzern durch den Kopf. Mehr Geld. Wie viel mehr? Doppelt soviel wie mein momentanes Fixgehalt. Läßt mich das unberührt? Ich forsche nach einem Gefühl. Mehr Verantwortung. Leitung einer Abteilung. Leitung eines Team, das ich mir selbst aussuchen kann. Jüngste Führungskraft. «Und das als Frau!», hatte mir der Unternehmensleiter noch erschreckend ehrlich gesagt. Kein Umzug in eine andere Stadt. Aber: Mehr Arbeit. Viel weniger Freizeit. Ich sinne aus dem Fenster in das dunkle Nichts hinein - den ‹Fakten› hinterher.

Der Herr hinter mir erhält seine Roulade, die rot und verloren auf dem sonst leeren Teller thront. Ich schaue flüchtig hin und sehe, dass der Herr elegant gekleidet ist, gut sitzender Anzug, ein für meinen Geschmack etwas überdimensionierter Siegelring. Typ Geschäftsmann. Eben jener Typ, mit dem ich heute Gespräche geführt habe. Er telefoniert im Laufe der Reise ununterbrochen, und ich muss ihm unweigerlich zuhören. Erst spricht der Geschäftsmann mit einem Menschen, dem er offensichtlich gefallen will, und den er um ein Treffen bittet. Kein angenehmer Tonfall. Dann telefoniert er, noch lautstarker als zuvor, in englischer, akzentfreier Sprache, mit einem anderen wohl wichtigen Menschen.

Ich schaue auf die Uhr, es ist halb 11 Uhr abends. Während ich meinen Salat esse, entdecke ich plötzlich auf meinem Tisch unter dem Tablett einen Werbeprospekt für Tourismus in Norwegen. Ich ziehe ihn hervor und blättere darin. Strahlende, gesund aussehende Menschen lachen mich an. Sie tragen wetterfeste Kleidung und sind neben Flüssen oder Seen mit kleinen Holzbooten, vor allem aber unter freiem blauem Himmel abgebildet. Die Wanderwege in Norwegen erscheinen unbeschmutzt. Ich wollte schon immer einmal in Norwegen wandern. Nähme ich den mir heute angebotenen Job an, würde ich vermutlich nie in Norwegen wandern gehen können. Ich atme tief durch und schaue aus dem Fenster in das dunkle Nichts hinein.

Der Herr hinter mir telefoniert immer weiter. Sobald er ein Gespräch beendet hat, wählt er eine neue Nummer. Jetzt spricht er in einem sanften Ton - vermutlich mit einem weiblichen Wesen. Auch hat sich das Gesprächsthema verändert. Es geht nun um einen Golfurlaub und einen gemeinsamen Brunch mit den ‹Rothenbaums›. Er redet mit vollem Mund. Es folgt eine unerwartete Gesprächspause. Dann: «Ach, mh, du willst mich heute nicht mehr sehen? Ich bin doch schon um 1 Uhr am Bahnhof - mh, mh, ach, da schläfst du schon? Na ja. Gute Nacht». Der Herr hinter mir legt auf und wählt sogleich eine neue Nummer. Jetzt spricht er über Termine und Flugdaten. Er langweilt mich. Ich stelle mir vor, dass dieser Mann nie in Norwegen wandern würde. Er wüsste nicht, was er dort tun sollte.

Ich habe mich derweil entschlossen, die Bilder aus Norwegen erscheinen mir wie ein Schlüssel, mit dem ich mich einer Tür verschließe und der anderen entschließe.



Erstellt: 22. April 2007 - letzte Überarbeitung: 24. April 2007
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