BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Fernbahn»
von Anna Wiesengrund
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Wieder einmal fahre ich durch die herbstliche Landschaft, umringt von Heimatbesuchern, die alle ein wenig erschöpft auf ihre Reiseliteratur konzentriert sind. Uns alle vereint als Ziel die anonyme Großstadt, die die meisten von uns als Lebensraum gewählt haben. Das Großraumabteil ist voll und ruhig, erfüllt von Gedanken, die jede und jeder mit sich selbst ausmacht. Es ist lange her, dass mich die Distanziertheit der Menschen untereinander traurig gemacht hat. Mittlerweile genieße auch ich die respektvolle Stille. Ich bin eine von den Wegguckerinnen geworden, die nach einem wohlerzogenen «Guten-Tag» neben der Sitznachbarin Platz nehmen und zufrieden sind, wenn es keine weitere Konversation gibt.

Ich denke über den ‹gesunden Menschenverstand› nach, mit dem ich an diesem Familienwochenende wieder einmal konfrontiert wurde – und der mich gefangen nimmt. Denn der Faktenkerker ist der eigentliche Grund, weswegen ich in die Hauptstadt geflohen bin, in der es so viele Lebensentwürfe gibt, dass sich niemand mehr über eine ‹richtige Lebensführung› Sorgen macht. Es gibt so viele Geschichten, die ich in meinem Leben als Psychologin und als Neugierige gehört habe. Und diese Erfahrungen zeigen mir die absolute Subjektivität des Gesagten mit einer so großen Selbstverständlichkeit, dass ich es nicht mehr gewohnt bin, von objektiven Fakten zu hören, geschweige denn über sie zu sprechen.

Es ist natürlich das Ringen um Verständnis oder irgendeine begriffliche Kopplung, die mich motiviert, den Menschen genau zu zuhören und das Gesagte, so wie es in meinem System ankommt, zu spiegeln, doch wenn es um ‹Fakten› geht, so bleibt mir die Sprache weg. Dies Gerede langweilt mich und umnebelt meinen Geist mit dem unsicheren Gefühl von Unwissenheit, das ich nicht entkräften kann, da ich nicht glaube, dass es wahres Wissen gibt. Es gibt nur Annäherungen und Umkreisungen oder Verstörungen, die wir im geschlossenen Gegenüber anstoßen können. Es macht mich unruhig, wenn Menschen von politischem, gesellschaftlichen oder medialen Gewissheiten sprechen. So bin ich ständig darum bemüht, den Satz «Was willst du mir über dich damit sagen?» einzustreuen – doch ohne Erfolg. Der gesunde Menschenverstand trennt das Wissen von sich als Wissenskonstrukteur.

Das Image-Spiel, das ich beobachte, führt zwar zu großen Verwerfungen und Missstimmungen unter den Sagenden, aber sie finden es eben wichtig, nicht nur von sich, sondern auch von ‹der Welt› und der ‹Wirklichkeit› zu sprechen. Dieses Mords-Molli-Spiel, dieses Sich-Aufplustern wie ein Pfau in der Brunftzeit, macht keinen Eindruck mehr auf mich, ich habe statt dessen lediglich Mitleid. Mit diesem empathischen Gefühl kann ich mich entspannen und ruhig nickend den gegenüber sitzenden Pfau bewundern, denn er scheint es gerade besonders zu brauchen. Es ist nur schade, dass es gar nicht um ein Miteinander-Sprechen geht.

Ich muss leise lachen, während ich wieder in mein Buch vertieft bin und bemerke plötzlich die interessierten Augen der Reisenachbarin, die mich kurz registrieren. Dann zeige ich ihr das, was mich zum Lachen gebracht hat und wir beide sind eine kurze Zeit verbunden.

«Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel der Besorgnis über Deinem Kopf fliegen, aber du kannst verhindern, dass sie sich in Deinem Kopf ein Nest bauen.»



Erstellt: 5. Oktober 2008 – letzte Überarbeitung: 10. Oktober 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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