BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Schneiderssohn und Millionärssohn: Knut Hamsun und Albert Langen»
von Helmut Hansen
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Die Vorgeschichte

Der Schneiderssohn Knud Pedersen, der sich Knut Hamsun nennt, findet nach seinem 1890 erschienenen Roman «Hunger» in den literarischen und künstlerischen Kreisen Skandinaviens große Anerkennung. Als Autodidakt wird er mit diesem Buch zu einem der meist diskutierten jungen Schriftsteller seines Landes. Doch die Kehrseite ist, daß sich zum einen sehr viele Journalisten und Kritiker berufen fühlen, ihn in ihren Artikeln und Traktätchen als Scharlatan zu schmähen, und zum anderen, daß die Anzahl seiner verkauften Bücher doch sehr klein bleibt. So lebt Hamsun denn weiterhin an der Grenze zur Armut. Aber er ist äußerst diszipliniert und fleißig. Um sich über Wasser zu halten, hält er vielerlei Vorträge - und er schreibt, meist nächtelang, an einem neuen Roman.

Dieser zweite große Roman trägt den Titel «Mysterien» und erscheint am 16. September 1892. Es ist ein moderner, ein außergewöhnlicher Roman, in dem das seltsame Verhalten eines Menschen namens Nagel und dessen schillerndes, flackerndes Bewußtsein im Mittelpunkt stehen. Dieser Nagel trägt einen gelben Anzug und stürzt eine geordnete und bürgerliche Kleinstadt an der norwegischen Küste in Verwirrung. Obwohl in der dritten Person geschrieben öffnet Hamsun den Lesern und Leserinnen dieses Romans in einer Reihe von Monologen den Zugang zum «stream of consciousness» des Helden, und dies etwa 20 bis 30 Jahre bevor diese Technik von englischen Schriftstellern weiter entwickelt wurde. Bjørnstjerne Bjørnson, der Hamsun 1880 angesichts dessen «Frida»-Manuskriptes noch geraten hatte, Schauspieler statt Schriftsteller zu werden, schreibt 1894 in einem Artikel über «Die moderne norwegische Literatur», die «Mysterien» seien «eines der großen Bücher der Literatur - ein Schneesturm von unbändiger Kraft.» Wer die «Mysterien» gelesen hat, kann dem nur zustimmen.

Doch wie wir oben bereits gesehen haben, hat Hamsun eine schlechte Presse. Bürgerliche und konservative Kreise halten ihn für einen dilettantischen Wichtigtuer, einen Histrione, und die Journalisten und Kritiker, die die «Mysterien» lesen, sind bestürzt und durcheinander, da sie mit diesem neuen Stil nichts anfangen können. Kaum einer versteht die geniale Konstruktion des Romans, kaum jemand sieht, welche Perspektiven der ‹psychologische Realismus› für die Literatur der Moderne bietet. Es gibt auch beschämende Intrigen diverser norwegischer Journalisten und Schriftsteller. So verwundert es nicht, daß sich schließlich der S. Fischer Verlag, der Hamsuns «Hunger» in Deutschland herausgebracht hat, weigert, die «Mysterien» in Deutschland zu verlegen.

Wegen des Hasses und der Ablehnung, die ihm insbesondere von der dänischen und norwegischen Journaille entgegengebracht wird, schreibt Hamsun im Herbst und Winter des Jahres 1892 auf die Schnelle einen kleinen polemischen Roman, «Redakteur Lynge», der bereits im März 1893 erscheint. Mit diesem Buch versucht der unbeugsame Hamsun sich nicht nur an einem bestimmten Journalisten und Wortführer der lärmenden Kritik zu rächen, sondern er will damit auch zeigen, daß er in der Lage ist, in ganz kurzer Zeit ein Buch ‹für die Massen› schreiben zu können. Und dieses ‹für die Massen› geschriebene Buch - nach übereinstimmender Ansicht verschiedener Kenner und Literaten sein schlechtestes - verkauft sich tatsächlich massenhaft. Doch auch die eher geringen Tantiemen für dieses Buch fließen wie Sand durch seine großen Hände. Hamsun beschließt, wie so viele norwegische Künstler vor ihm, sein Land zu verlassen und nach Paris zu gehen. Am 13. April 1893 reist er ab.


Die Kolonie

Paris ist in den 1890er Jahren für viele Künstler und Schriftsteller der kulturelle Mittelpunkt Europas. Ein vorübergehender Aufenthalt in dieser wunderbaren Stadt ist zu dieser Zeit für arrivierte Künstler und die vielen jungen Leute, die Künstler werden wollen, ein Muß! Und so gibt es auch eine große skandinavische Kolonie von Künstlern in Paris, und innerhalb dieser eine norwegische Fraktion, zu der zu Zeiten so berühmte Leute wie Jonas Lie, Bjørnstjerne Bjørnson, Alexander Lange Kielland, Edvard Munch, Gustav Vigeland, Edvard Grieg und viele weitere Künstler zählen. Diese norwegische Gruppe von Künstlern hält sich etwas abseits von den anderen und trifft sich in ihren Wohnungen rund um den ‹Jardin du Luxembourg› oder aber im ‹Café de la Régence›.

In Paris angekommen wohnt Hamsun eine Weile unentgeltlich in einem Zimmer an der Places Malesherbes 112, unterhalb des Ateliers des dänischen Malers Willy Petersen, der sich Willy Grétor nennt. Dieser junge Mann ist kaum 24 Jahre alt und dennoch zu dieser Zeit in Paris sehr bekannt, ja, man kann sagen, daß er eine Berühmtheit ist. Grétor ist nicht nur Maler, sondern er ist auch als Lebemann, Kunsthändler und Börsenspekulant in allerlei dunkle oder halbdunkle Geschäfte verwickelt. Aber für Knut Hamsun kann er viele Türen öffnen. Und in dieser Geschichte geht es um eine besondere Tür.


Der Millionärssohn

1890 fährt ein gerade 21-jähriger Fabrikantensohn mit dem Zug aus dem Rheinland nach Paris. Gerade volljährig geworden hat er ein großes Erbe angetreten und ist nun - reich. Und er kommt nach Paris, weil er Maler oder Schriftsteller werden möchte. Willy Grétor, der Unvermeidliche, nimmt ihn unter seine Fittiche. Dabei trifft der Millionärssohn ein Abkommen mit Grétor: Dieser soll ihn mit den besten und berühmtesten Künstlern zusammenbringen, die in Paris nur aufzutreiben sind, und jener werde alle allfälligen Rechnungen begleichen.

Wir können uns gut vorstellen, wie sich der Millionärssohn unter der kundigen Anleitung von Grétor zum Playboy, Dandy und Bonvivant entwickelt. Noch naheliegender ist für uns die Vermutung, daß das Vermögen des Millionärssohns rasch schwindet und Willy Grétor reicher und reicher wird. Doch erstaunlicherweise ist der junge Mann aus Deutschland ganz offensichtlich ein überaus kluger und selbstreflektierter Mensch, denn er kommt 1893, zu dem Zeitpunkt, da Hamsun bereits einige Wochen in Paris weilt, zu der Einsicht, daß er in seinen Versuchen, zu schreiben und zu malen, nur dilettiert, daß er kein Künstler ist, vermutlich auch keiner werden wird, und daß er sich nun nach einer anderen ihn erfüllenden Aufgabe umsehen muß. Und dieser junge Millionärssohn sollte bald seine Bestimmung, seine Berufung, seine Lebensaufgabe finden. Ach ja, der Name des Millionärssohns ist Friedrich Albert Langen.


Das Café

Eines Tages macht Willy Grétor im Rahmen des oben erwähnten Abkommens Albert Langen mit Knut Hamsun bekannt. Sie treffen sich im ‹Café de la Régence› und Albert Langen und der etwa zehn Jahre ältere Hamsun kommen sehr gut miteinander aus, ja, der Millionärssohn und der Schneiderssohn mögen sich auf Anhieb. Hamsun spricht zwar nur sehr wenig Französisch, Englisch oder Deutsch. Da Grétor und Langen jedoch das Französische sehr gut beherrschen und Hamsun sich mit Grétor im Dänischen verständlich machen kann, wird es ein lebendiger Diskurs.

Hamsun erzählt davon, wie er vor der mißgünstigen und haßerfüllten Journaille nach Paris geflohen sei und daß sich der S. Fischer Verlag weigere, seinen Roman «Mysterien» übersetzen zu lassen und in Deutschland herauszubringen, angeblich, da sich sein Roman «Hunger» in Deutschland nur schlecht verkaufe. Albert Langen hat dies Buch bereits gelesen. Und er ist von Knut Hamsun sehr beeindruckt. Deswegen verspricht er, Hamsun zu helfen und ihm das Geld für die Veröffentlichung der «Mysterien» in Deutschland zur Verfügung zu stellen. Als aber Langen, Grétor und Hamsun eine ganze Weile über diese Angelegenheit gesprochen haben, hat der Millionärssohn eine noch bessere Idee.

An diesem Tisch, im ‹Café de la Régence› in Paris, gründet Albert Langen den «Verlag für Litteratur und Kunst», den er später zunächst in Leipzig und schließlich in München ansiedelt. Und der Millionärssohn gründet diesen Verlag einzig und allein zu dem Zweck, die «Mysterien» des Schneiderssohns in Deutschland herauszubringen. Dies geschieht auch bereits im Herbst 1893, in der Übersetzung von Maria von Borch.


Epilog

Hamsun erreicht mit Albert Langens Unterstützung endlich einen bescheidenen finanziellen Wohlstand, der ihm das weitere Arbeiten als Schriftsteller ermöglicht. Und schon 1894 überrascht er die literarische Welt und alle seine Kritiker mit einem der schönsten Romane, die je geschrieben wurden: «Pan». Ja, Knut Hamsun wird als Schriftsteller einmal sehr berühmt werden.

Albert Langen findet mit der Gründung seines Verlages endlich einen Weg, etwas aus seinen vielfältigen Fähigkeiten zu machen. Und Albert Langen wird als Verleger einmal sehr berühmt werden. Ja, Albert Langen heiratet am 10. März 1896 gar Dagny Bjørnson, die jüngste Tochter des großen Bjørnstjerne Bjørnson. Doch das ist eine andere Geschichte.

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Literatur

Helga Abret und Aldo Keel (1987): Im Zeichen des Simplicissimus. Briefwechsel Albert Langen/Dagny Björnson 1895-1908. München-Wien: Albert Langen - Georg Müller Verlag.

Robert Ferguson (1990): Knut Hamsun. Leben gegen den Strom. Biographie. München - Leipzig: List.

Knut Hamsun (1936): Gesammelte Werke in siebzehn Bänden. München: Albert Langen/Georg Müller.



Erstellt: 1. Oktober 2004 - letzte Überarbeitung: 16. Februar 2005
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