BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Spaziergänge am Ufer der Seine im Winter 1894/95: Knut Hamsun und August Strindberg» von Helmut Hansen
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Der Sohn eines Schneiders

Knut Hamsun verbringt den Sommer 1894 im norwegischen Kristiansand und kehrt erst im Herbst wieder nach Paris zurück. In der dortigen norwegischen Kolonie hat sich nicht nur sein großer Erfolg mit dem Roman «Mysterien» herumgesprochen, sondern man hat auch schon allerlei gehört über den neuen Roman, der schließlich den Titel «Pan» erhalten und im Dezember 1894 erscheinen wird. Und man amüsiert sich darüber, daß Hamsuns einst so unbeugsame Kritiker und Zweifler an seinen schriftstellerischen Fähigkeiten - sie bezeichnen ihn schon mal als «Apostel des Humbugs» oder «Taschenspieler der ‹neuen› Kunst» - seit einer Weile versuchen, auf den sich stetig beschleunigenden Zug der Bewunderung und Begeisterung gegenüber Hamsuns literarischen ‹Taten› aufzuspringen. Bjørnstjerne Bjørnson hat als allgewaltiger Volksheld und Rhetor ein Lavieren nicht nötig, er bereut seinen nun beinahe 15 Jahre zurückliegenden Irrtum in der Einschätzung von Hamsuns literarischem Talent und wird bald die Naturschilderungen in Hamsuns «Pan» als «das Höchste und Großartigste in der norwegischen Literatur» bezeichnen. Hamsun ist also berühmt in diesem Winter 1894/95 in Paris - aber er ist nach wie vor sehr arm, obwohl er gelegentlich Tantiemen für seine bisher in noch kleinen Auflagen erschienenen Bücher erhält und vor allem immer wieder seinen geduldigen deutschen Verleger und Millionärssohn Albert Langen anpumpt.

Hamsun lebt in diesem Winter äußerst diszipliniert. Er hat einen festen Tageslauf: Zwischen sechs und sieben Uhr abends ißt er seine Hauptmahlzeit in einem Bistro, danach setzt er sich ins Café de la Régence, in dem er bis etwa neun Uhr in den verschiedenen Zeitungen blättert. Dann kehrt er in sein Zimmer in der Rue de Vaugirard zurück, schläft ein wenig, und arbeitet dann, von etwa elf Uhr abends bis zum frühen Morgen. Dann schläft er bis zum Nachmittag, frühstückt, geht mit dem Autor Johan Bojer, dem Bildhauer Gustav Vigeland oder einem Schriftsteller, den wir gleich kennen lernen werden, an der Seine spazieren, um zwischen sechs und sieben Uhr abends wieder irgendwo etwas zu essen. Berichte über diese asketische und disziplinierte Lebensweise gelangen bis nach Norwegen. Und der große Bjørnstjerne Bjørnson reibt einem versoffenen und faulen Schriftsteller, den er wieder auf den rechten Weg bringen möchte, diese Lebensweise Hamsuns als Vorbild unter die Nase.


Der Sohn einer Magd

Auch August Strindberg, der sich selbst im 1886 erschienenen ersten Band seiner Autobiographie als «Sohn einer Magd» bezeichnet, lebt im Winter 1894/95 in Paris. Er ist - wieder einmal - an einem äußerst schwierigen und komplizierten Punkt in seiner Lebensbahn angekommen. Er ist zwar ein berühmter und einflußreicher Schriftsteller, der großartige Romane (z.B. «Das rote Zimmer» und «Am offenen Meer»), moderne, naturalistische Dramen (z.B. «der Vater» und «Fräulein Julie»), eine beeindruckende mehrbändige Autobiographie über «Die Entwicklung einer Seele» und hunderte von kleinen Artikeln und Zeitungsglossen geschrieben hat, aber wieder einmal steht seine Ehe, die zweite, vor dem Scheitern, und wieder einmal lebt er in größter Armut.

Strindberg ist bereits im Sommer 1894 nach Paris gekommen und in die Fänge des unvermeidlichen Willy Grétor geraten, den wir schon aus der «Schneiderssohn und Millionärssohn»-Geschichte kennen. Strindberg malt während dieser Zeit viel, Grétor sieht einige dieser Bilder und Aquarelle, Grétor zeigt sich enthusiastisch, überschwenglich, begeistert - und verspricht Strindberg, diese Bilder und alle weiteren für mindestens 1000 Franc das Stück zu verkaufen. Ach, Grétor, der Allesversprecher. Strindberg schreibt, von Grétor entzündet und beglückt, an seine in Dornach zurückgebliebene Frau Frida Uhl, die im September 1894 ebenfalls nach Paris kommt - für die letzten sechs Wochen, die sie zusammen verbringen sollten.

Die 22-jährige Frida verfällt unmittelbar nach ihrer Ankunft dem Luxusleben der Charmeure Willy Grétor, Albert Langen und - Frank Wedekind, der als Sekretär für Langen arbeitet. Der ohnehin gerade für Eifersüchteleien anfällige Strindberg ist erschüttert. Kurz und gut, August und Frida trennen sich, Frida wird später ein Kind von Frank Wedekind bekommen, Wedekind wird Grétor in seinem «Marquis von Keith» (1901) ein Denkmal setzen, und August Strindberg zieht in die Rue de la Grande Chaumière und wendet sich - neben der Malerei - nun der Alchemie und allerlei chemischen Experimenten zu, insbesondere mit Schwefel. Doch leidet er sehr unter der Trennung von Frida, und seine Experimente, seine Armut, sein unermüdliches Arbeiten und sein Absinth-Konsum zehren an seiner Gesundheit.


Respekt

Und nun endlich, im Oktober 1894, lernen sich Strindberg und Hamsun kennen. Hamsun ist Mitte dreißig, Strindberg Mitte vierzig. Hamsun hat schon mehrere Vorträge über Strindberg gehalten, da er ihn sehr bewundert. Auch meint er Parallelen zu sehen, denn auch Strindberg sei mit einem Gefühl sozialer Minderwertigkeit aufgewachsen, auch Strindberg habe unter Schmerzen lernen müssen, in der Welt zurecht zu kommen - und sei doch berühmt geworden. Hamsun spürt und respektiert Strindbergs starke Persönlichkeit, seinen fiebrigen Intellekt, seine Sensibilität, seine Exzellenz und Eminenz, und er akzeptiert Strindbergs gewaltiges Selbstgefühl.

Und Strindberg schätzt Hamsun, insbesondere den Roman «Hunger» und Hamsuns eher passagere Arbeit «Vom Geistesleben im modernen Amerika». Hier fasziniert Strindberg an Hamsun die völlige Subjektivität der Darstellung und der Mut zur Unausgewogenheit.


Am Ufer der Seine

Hamsun und Strindberg machen des Nachmittags lange Spaziergänge entlang der Seine, um dann später irgendwo zu Abend zu essen. Sie unterhalten sich, sie diskutieren, doch oft verfällt Strindberg in äußerst anstrengende, intensive und ausschweifende Monologe, die Hamsuns absolute Aufmerksamkeit und seine ganze Konzentration erfordern. Geringfügige Unaufmerksamkeiten Hamsuns führen zu gewaltigen und feindseligen Tiraden von Seiten Strindbergs. Nach diesen Spaziergängen und Mahlzeiten ist Hamsun oft sehr erschöpft. Ja, manchmal spricht er davon, daß ein Nachmittag oder Abend mit Strindberg etwa so anstrengend sei wie eine Zahnbehandlung. Aber auch Hamsun ist ein Hitzkopf und er widerspricht seinem Helden öfter, als diesem lieb sein kann. Dennoch werden Hamsun und Strindberg Freunde und die Spaziergänge und Zusammenkünfte währen den ganzen Winter 1894/95. An einem dieser Abende entwerfen sie gar den Plan, als Straßenmusikanten durch Europa zu ziehen, bis weit hinauf nach Schweden. Strindberg sollte dabei Gitarre spielen - und Hamsun singen.

Eines Abends, nach einem längeren und geistig sehr anstrengenden Spaziergang schlägt Hamsun vor, zum Essen in ein eher heruntergekommenes Bistro, ja, in eine Kaschemme zu gehen, doch Strindberg zögert und sagt, dieses Restaurant sei zu fein und zu teuer für ihn. Er bittet Hamsun, mit ihm weiter zu gehen und etwas anderes zu suchen. Hamsun erschrickt. Strindberg hat sich zwar des öfteren Geld von ihm geliehen, doch das ganze Ausmaß von Strindbergs Armut, die dieser ohne jede Pose erträgt, wird ihm erst jetzt in dieser Szene klar - und er beschließt, etwas zu unternehmen.


Die Sammlung

Hamsun erscheint es äußerst ungerecht, daß Strindberg - in seinen Augen ‹der größte Schriftsteller Europas› - in Lumpen umhergeht, seine Miete nicht bezahlen kann und sich ständig Geld leihen muß, um etwas zu essen zu bekommen. So geht er zu Jonas Lie, damals einer der einflußreichsten Literaten in der norwegischen Kolonie in Paris, und berät sich mit diesem, was zu tun sei. Sie beschließen, eine Sammlung für Strindberg zu veranstalten. Und tatsächlich erscheint am 7. März 1895 in einigen führenden Zeitungen Skandinaviens ein von Hamsun verfaßter und von verschiedenen bekannten Autoren und Künstlern unterzeichneter Aufruf, mit der Bitte, ein ‹großes literarisches Genie› zu unterstützen. Am 19. März schreibt Hamsun in einem Brief an Adolf Paul, einen finnisch-schwedischen Autor und Bewunderer Strindbergs, daß Strindberg mit der Sammlung in die Lage versetzt werden solle, das zu tun, wozu er Lust habe: Schreiben, malen, herumexperimentieren oder nichts tun.

Es kommt einiges Geld zusammen, nicht viel. Am 2. April 1895 geht Hamsun zur Wohnung von Strindberg, um ihm den ersten Teil des gesammelten Geldes zu überreichen. Doch Strindberg ist nicht zu Hause. So hinterläßt er eine Karte mit der Nachricht, aus welchem Grund er ihn besucht habe. Doch am folgenden Tag wird Hamsun eine Karte von Strindberg zugestellt. Auf dieser steht: «Behalten Sie die dreißig Silberlinge, und lassen Sie uns fürs ganze Leben miteinander fertig sein!»


Epilog

Hamsun ärgert sich zwar über diese Geschichte einer unwillkommenen Sammlung, er geht aber am 17. April 1895 noch einmal mit dem Geld zu Strindberg, doch dieser - völlig in seine alchemistischen Experimente versunken - will ihn nicht empfangen. Am 19. April versucht Hamsun es noch einmal, doch da ist Strindberg verschwunden. Noch am selben Tag schreibt Hamsun an seinen Verleger Albert Langen: «Strindberg has left Paris, it is reported to me. I can have no transactions with him more, he has broke definitely with me without cause. Oh he ist mad, crazy.»

Natürlich konnte Strindbergs Verhalten nichts an Hamsuns Hochachtung für ihn ändern. Und Hamsun läßt sich in seinem Wunsch, Strindberg auch weiterhin zu unterstützen, nicht abschrecken. Kurze Zeit nach diesen Ereignissen organisiert Hamsun eine Benefizveranstaltung für Strindberg am ‹Deutschen Theater in Berlin›. Und überraschenderweise zeigt sich Strindberg diesmal geneigt, das Geld anzunehmen - doch nicht für sich selbst, nein, er verlangt, daß das Geld an seine Tochter Kerstin geschickt werde. Kerstin ist ein Jahr alt, ihre Mutter ist Frida Uhl.

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Literatur

Helga Abret (1993): Albert Langen. Ein europäischer Verleger. München: Langen Müller.

Robert Ferguson (1990): Knut Hamsun. Leben gegen den Strom. Biographie. München - Leipzig: List.

Knut Hamsun (1936): Gesammelte Werke in siebzehn Bänden. München: Albert Langen/Georg Müller.

Tore Hamsun (1993): Mein Vater Knut Hamsun. München: Langen Müller.

Michael Meyer (1985): Strindberg. A Biography. London: Secker & Warburg.



11. Oktober 2004 - letzte Überarbeitung: 16. Februar 2005
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