BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«In einer deutschen Pension: Katherine Mansfield»
von Albertine Devilder
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«Treibe alles so weit es geht.»
(Oscar Wilde)

Vorher

1903: Katherine Mansfield (eigentlich Kathleen Beauchamp, 1888-1923) verläßt zum ersten Mal ihre Heimatstadt Wellington auf Neuseeland, um in London das Queen's-College zu besuchen. Da ist sie 15 Jahre alt. Doch drei Jahre später wird sie – gegen ihren immer wieder erklärten Willen – von ihren aufgebrachten Eltern zurückgeholt. Sie hatte das oben genannte Motto von Oscar Wilde in ihr Tagebuch geschrieben und ernst genommen.

In Neuseeland leidet sie sehr unter der aussichtslosen ‹Engstirnigkeit› und ‹Mittelmäßigkeit› der ‹spießbürgerlichen Gesellschaft›, sie haßt den belanglosen Konventionalismus ihrer Eltern und Verwandten. Sie stürzt sich in eine Reihe von Liebesaffären mit Männern und Frauen, und während sie liest und liebt schreibt sie. Und endlich, im Sommer 1908, schafft sie es, Neuseeland endgültig den Rücken zu kehren und ihr Leben in London selbst in die Hand zu nehmen. Ihr Vater - ein Bankdirektor – sorgt für ihren Lebensunterhalt.

Wie sieht ein Leben aus, das Katherine Mansfield selbst in die Hand nimmt? Wieder hat Oscar Wilde Antworten: «Lebe! Lebe das wundervolle Leben, das in Dir ist! Laß Dir nichts entgehen!» Und: «Die einzige Art, eine Versuchung loszuwerden, ist ihr nachzugeben.» Also liest und liebt und lebt und schreibt sie, manisch.

Sie liest: Dickens, Shakespeare, Milton, die Brontë Schwestern, Shaw, Flaubert, Ibsen, Henry James, Maupassant, Maeterlinck, Heine, Nietzsche, Dostojewski, Tolstoi, Tschechow und viele andere. Sie muß lesen. Doch alles, was sie liest, genügt ihr nicht.

Sie liebt: Sie hat 1908 – unter anderem – eine Affäre mit einem Cellisten, dann mit dessen Zwillingsbruder, einem Violonisten. Sie wird schwanger, träumt von einem Sohn, und im März 1909 heiratet sie überraschend einen elf Jahre älteren Gesanglehrer, geht mit ihm am Abend ins Theater, dann ins Hotel, weigert sich aber mit ihm zu schlafen. Am nächsten Morgen verläßt sie ihn. Sie muß lieben. Doch alle, die sie liebt, genügen ihr nicht.

Sie lebt: «Ich bin anders als die anderen, weil ich alles erlebt habe, was es zu erleben gibt.» Sie raucht, trinkt, nimmt starke Schlafmittel und ist ihr Leben lang unterwegs in Hotels, fremden Wohnungen, möblierten Zimmern, Pensionen. Sie findet keinen Ort der Ruhe. Sie muß leben. Doch alles, was sie erlebt, genügt ihr nicht.

Sie schreibt: Bereits mit neun Jahren verfaßt sie eine kleine Geschichte, die in einer Schulzeitung veröffentlicht wird. Während der Jahre im Londoner Queen's-College entwirft sie viele weitere Geschichten, von denen einige auch erscheinen. Zurück in Neuseeland und später wieder in London schreibt und schreibt sie. Sie kann sich ein Leben ohne Schreiben nicht denken. Sie muß schreiben. Denn im Schreiben findet sie Halt und ein Genügen.

Als ihr London plötzlich verhaßt wird, versucht sie in Brüssel ihrem unbedingten Leben zu entgehen. Wieder zurück in London taucht überraschend ihre Mutter auf, die – aufgrund von nach Neuseeland gedrungenen Nachrichten über den Lebenswandel ihrer Tochter – mit ihr nach Bayern fährt und sie dort in ein Kloster steckt. Anschließend fährt ihre Mutter wieder zurück nach Neuseeland, allerdings nicht ohne sie vorher ‹enterbt› zu haben. Natürlich verläßt Katherine Mansfield, 21 Jahre alt, schwanger, und verheiratet mit einem Mann, den sie nicht kennt und nicht kennenlernen will, baldmöglichst das Kloster, um in Bad Wörishofen von einer Pension zur nächsten zu ziehen.


In einer deutschen Pension

Ende Juli 1909. Katherine wacht auf. Es ist sehr hell im Zimmer, denn sie hat gestern Abend vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Direkt vor ihrem Fenster spektakeln hundert Sperlinge in einer Linde. Gestern war sie aus einer kleinen Pension geflohen, weil sie den säuerlichen Geruch, der in den Fluren, in den Räumen, in den Menschen und in ihrer Bettwäsche hing, nicht mehr ertragen konnte. Und weil sie sich diesem Polen, der sie ständig bedrängte, schließlich doch ergeben hatte. Es ist eine unangenehme Erinnerung, und so hat sie gestern Abend zu viel geraucht, zu viel Brandy getrunken und zu viel Veronal genommen.

Mühsam hebt Katherine ihren Kopf und blickt in ihrem neuen Zimmer herum. Diesmal hat sie sich eine bessere Pension in einer ‹herrschaftlichen› Villa ausgesucht. Und ihr Zimmer ist hell und schön, am Fenster steht ein kleiner Tisch, an dem sie gleich, nach dem Frühstück, arbeiten wird. Mitten im Zimmer steht ein riesengroßer Schrankkoffer, aufgeklappt, sie hat nur das Nötigste herausgenommen. Katherine steht auf.

Als sie vom Frühstück zurückkommt, ist sie heiter, ja, fast ausgelassen. Sie hat eine Idee für eine Reihe von Geschichten, und sie hat eine Vorstellung davon, wie diese aussehen könnten. Hat sie nicht gerade an einer Versammlung von Pensionsgästen teilgenommen, die während ihres Frühstücks gesprochen und gesprochen haben? Ja, sie wird die Diskurse aus dem Pensionsalltag aufschreiben, nachzeichnen, sie braucht eigentlich gar nichts hinzuzufügen, denn die Wirklichkeit übertrifft jede Fiktion. Beflügelt, ja, begeistert setzt sie sich an den Tisch am Fenster und beginnt:
«Heute nachmittag treffen zwei neue Gäste ein. Die Baronin von Gall schickt ihre kleine Tochter zur Kur her – das arme Kind ist stumm.» «Was hat das zu sagen? Behinderte Kinder sind so niedlich in ihrem Benehmen.»

«Stimmt es, daß Sie Vegetarierin sind?» «Ja – ich habe seit drei Jahren kein Fleisch mehr gegessen.» «Unmöglich! Haben Sie Kinder?» «Nein.» «Da haben wir's!»

«Was für Fleisch ißt Ihr Mann am liebsten?» «Das weiß ich wirklich nicht.» «Das wissen Sie nicht? Wie kann eine Frau erwarten, ihren Mann zu halten, wenn sie sein Lieblingsgericht nicht kennt?»

«Natürlich ist so etwas für euch Engländerinnen schwer zu verstehen, da ihr immer auf den Kricketplätzen eure Beine zeigt. Ich für meinen Teil verstehe nicht, wie ihr Engländerinnen überhaupt geheiratet werdet.»

«Mein Mann war groß, ein schöner Mann, und abends kam er manchmal in die Küche hinunter und sagte zu mir: ‹Frau, ich möchte mal zwei Minuten lang dumm sein!› Nichts ruhte ihn so aus, als wenn ich ihm den Kopf streichelte.»

«Ich bin noch nie in England gewesen, aber ich habe viele englische Bekannte. Wie kalt sie sind!» «Fischblütig! Ohne Seele, ohne Herz, ohne Charme! Aber ihre Kleiderstoffe sind unübertrefflich.»

«Vermutlich haben Sie Angst vor einer Invasion?» «Nein.» «Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir wollen England gar nicht haben. Wenn wir England haben wollten, hätten wir's uns schon längst geholt.»
Nach einem Schreibrausch von mehreren Stunden schaut Katherine auf und blickt aus dem Fenster. Es ist schon früher Nachmittag und ihr Rücken schmerzt. Als sie aufsteht, sieht sie ihren großen Schrankkoffer, der immer noch mitten im Zimmer steht. Aus einem Impuls heraus räumt sie ihn leer, wirft alle Sachen auf ihr Bett, schließt den Koffer, hebt ihn mit Mühe auf und versucht, ihn auf den Kleiderschrank zu stemmen. Als der Koffer schon auf der Vorderkante des Schrankes ruht, merkt sie, daß sie zu klein ist, um ihn ganz auf den Schrank schieben zu können. Sie reckt sich noch einmal auf die Zehenspitzen, doch sie spürt, daß sie es nicht schaffen wird. Plötzlich wird ihr schwindelig, ihr wird übel, sie fürchtet, ohnmächtig zu werden, und bei einer letzten, verzweifelten Anstrengung, den Koffer auf den Schrank zu wuchten, blitzt ein unsäglicher Schmerz durch ihren Leib. Geistesgegenwärtig wirft sie sich zur Seite und der Koffer poltert mit einem überlauten Krach zu Boden. Als der Hausdiener nur wenige Sekunden später die Zimmertür aufreißt, sieht er den Koffer vor dem Kleiderschrank liegen, und daneben, auf der Seite, etwas zusammen gekrümmt, Katherine. Entsetzt läuft der Hausdiener davon, um einen Arzt zu holen.

Doch lange bevor der Arzt das Zimmer betritt, ist Katherine wieder bei sich. Sie liegt immer noch auf der Seite und hat schlimme Schmerzen im Unterleib. Sie weint, denn sie weiß, daß sie ihr Kind verloren hat.


Nachher

Zu Beginn des Jahres 1910 kehrt sie nach London zurück und stürzt sich in immer neue Liebesaffären und immer neue Schreibpläne. Ihr erstes Buch ‹In a German Pension› erscheint im Dezember 1911. Während des ersten Weltkrieges verhindert Katherine Mansfield eine Neuauflage. Sie möchte sich von der in England grassierenden Deutschfeindlichkeit distanzieren.


Epilog

Am 14. Oktober 1922, ihrem 34. Geburtstag, unheilbar an Tuberkulose erkrankt und wenige Wochen vor ihrem Tod, blickt Katherine auf ihr unbedingtes Leben zurück und schreibt in ihr Tagebuch, was sie sich eigentlich in und von ihrem Leben erhoffte und was ihr nie beschieden war:
«Ich möchte einen Garten, ein kleines Haus, eine Wiese, Tiere, Bücher, Bilder, Musik. Und aus alldem heraus, als Ausdruck davon, möchte ich schreiben. Aber warmes, volles, lebendiges Leben – im Leben verwurzelt sein – lernen, wissen wollen, fühlen, denken, handeln. Das ist es, was ich mir wünsche. Und nichts weniger. Danach muß ich sterben.»


Literatur
  • Katherine Mansfield (1997): Sämtliche Erzählungen in 2 Bänden. Band 1. Die Töchter des jüngst verstorbenen Colonel Pinner. Herausgegeben, ins Deutsche übertragen und mit einem biographischen Essay von Elisabeth Schnack. Frankfurt am Main und Wien: Büchergilde Gutenberg. (Die im Abschnitt ‹In einer deutschen Pension› zitierten Textstellen sind diesem Buch entnommen.)
  • Katherine Mansfield (1997): Sämtliche Erzählungen in 2 Bänden. Band 2. Die Blume Sicherheit. Herausgegeben, ins Deutsche übertragen und mit einem biographischen Essay von Elisabeth Schnack. Frankfurt am Main und Wien: Büchergilde Gutenberg.
  • Verlag Neue Kritik (Hrsg.) (1998): Apropos Katherine Mansfield. Mit einem Essay von Ingrid Mylo. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik. (Der Tagebucheintrag vom 14.10.1922 ist diesem Buch entnommen.)



  • Erstellt: 21. März 2008 – letzte Überarbeitung: 11. April 2008
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