BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Raymond Carver»
von Helmut Hansen
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Eröffnung

Vor einiger Zeit erzählte mir Artus P. Feldmann, Raymond Carvers Kurzgeschichten erschienen nun endlich und zum ersten Mal vollständig übersetzt auf Deutsch [1] Bisher sind erschienen: (Band 1) Raymond Carver (2000): Würdest du bitte endlich still sein, bitte. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin: Berlin Verlag. (Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel «Will You Please Be Quiet, Please?») - (Band 2) Raymond Carver (2000): Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin: Berlin Verlag. (Die Originalausgabe erschien 1981 unter dem Titel «What We Talk About When We Talk About Love».) - (Band 3) Raymond Carver (2001): Kathedrale. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin: Berlin Verlag. (Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel «Cathedral».) - (Band 4) Raymond Carver (2002): Erste und letzte Storys. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin: Berlin Verlag. (Die Originalausgabe der «Frühen Erzählungen» erschien 1992 unter dem Titel «No Heroics, Please»; die Originalausgabe der «Neuen Erzählungen» erschien 1988 unter dem Titel «Where I'm Calling From»; und die Originalausgabe der postum veröffentlichten Erzählungen erschien 2000 unter dem Titel «Call if You Need Me».), und er fragte mich, ob ich aus diesem Anlaß nicht eine «Buchgeschichte» für das «Skepsis-Reservat» schreiben könnte. Da Carver schon seit zehn, fünfzehn Jahren einer meiner literarischen Heroen ist, sagte ich sofort zu. Bedenken kamen mir erst später.

So wie es immer Filme – jenseits des mainstreams – gibt, die nur von den wenigen Menschen gesehen werden, die sich für Filmkunst interessieren [2] Als ich vor einigen Jahren in einem kleinen kommunalen Kino saß, um mir – gemeinsam mit Bethchen B. – einen Filmzyklus von Eric Rohmer anzuschauen, war die Reaktion der wenigen Zuschauer so, wie ich das schon bei anderen Vorführungen von Filmen Eric Rohmers erlebt hatte: Nach ungefähr 15 Minuten verließen sechs der etwa nur zwölf Zuschauer das Kino. Sie wurden von Eric Rohmers Filmkunst ganz offensichtlich nicht berührt. Sie wollten mit dem, was da auf der Leinwand geschah, nichts zu tun haben. Und was war da zu sehen, um was ging es in dem Film, den sie nicht weiter anschauen wollten? Schon sind wir bei Raymond Carver. , so wie es immer Schallplatten und CDs – jenseits des mainstreams – gibt, die fast ausschließlich von denen gehört werden, die ein starkes Interesse an Musik, ja an der Kunst der Musik haben (und sich nicht etwa für «Stars» begeistern), so, genauso, gab und gibt es in der Welt der Bücher Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die nur von denen gelesen werden, die ein genuines Interesse an der Literatur haben, und die sich mit ganzer Leidenschaft Büchern widmen und hingeben [3] Falls Sie, lieber Leser und liebe Leserin, gerne herausbekommen möchten, ob sie sich «wirklich» für Literatur interessieren, läßt sich dies mit einem kleinen objektiven Test schnell feststellen. Kaufen Sie sich «Die wunderbaren Falschmünzer» von Rolf Vollmann, erschienen im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main. Wenn Sie diesen «Roman-Verführer» genießen, wenn er ihr ‹Herz vor Freude hüpfen› läßt, wenn sie den vielen von Vollmann gelegten Spuren aufgeregt folgen, dann ist die Antwort klar. Wenn der «Roman-Verführer» Sie aber ‹langweilt›, ist die Frage auch entschieden..

Raymond Carver ist so ein Autor. Er wurde jahrelang unter Liebhaberinnen des Geschriebenen wie eine Art Geheimtip gehandelt. Zu den verschiedensten Gelegenheiten hörte ich, wie «Eingeweihte» zu «Novizinnen» ein: «Lies mal den!» sagten und dabei mit einem wissenden und doch unergründlichen Lächeln aufwarteten. Und wenn heute – in einem Literarischen Salon zum Beispiel – an irgendeiner Stelle des Diskurses über Literatur der Name ‹Carver› fällt, gibt es fast regelmäßig ein kurzes, andächtiges Schweigen, ja fast so etwas wie eine Schrecksekunde. Auch in der sozial-konstruktivistischen Szene wurde und wird Raymond Carver hoch gehandelt. Warum? Das wird dieser kleine Essay – hoffentlich – zeigen.


Auf den ersten Blick

Carvers faszinierende Kurzgeschichten leben nicht von dem, was in ihnen geschieht und gesagt wird, sondern eher davon, was in ihnen verschwiegen, was nicht gesagt wird, was zwischen den Zeilen steht. Deswegen vermutlich auch die Begeisterung der Literatur-Conaisseurs. Der Subtext von Carvers Erzählungen ist es also, der erregt und verstört. Derrida hätte seine große Freude daran. Wenn wir ‹nur› an der Oberfläche der Texte bleiben, uns ‹nur› ansehen, wie die Fäden der einzelnen Handlungen geknüpft sind, ‹nur› lesen, was die Leute in den Geschichten so zueinander und über die Welt sagen, dann kann es ganz schnell geschehen, daß wir uns zu einem «Also mit Carver kann ich irgendwie zunächst einmal ein Stück weit überhaupt nichts anfangen!» hinreißen lassen.

Hinter die ‹Geheimnisse› von Carvers Œuvre kommen wir nur, wenn wir uns – auf eine bestimmte Art und Weise – in den Personen seiner Geschichten wiedererkennen, uns in diese hineinversetzen und seine Erzählungen als Selbstbetrachtungen lesen, wenn wir uns also von den schnell erzählten Plots der Geschichten fort und in den von ihm äußerst kunstvoll gewobenen Subtext saugen lassen. Und ich habe eine Weile geschwankt, ob ich mich diesen «Geheimnissen» nähern sollte, und mich gefragt, warum ich sie all denen antragen soll, die meinen, mit Carver «nichts anfangen zu können»? Warum soll ich denen, die von Carvers Geschichten nicht «betroffen» sind, sich von ihnen nicht treffen lassen (wollen), erzählen, was das Besondere an diesen Geschichten ist und warum sie uns um so deutlicher und genauer treffen, je weniger wir meinen, von ihnen getroffen zu werden? [4] Nur nebenbei: Dieses Sich-Selbst-Betrachten scheint in den letzten Jahren in der Vulgärkultur modisch geworden zu sein, aber nur, weil die einschlägigen Vorführungen (vgl. dazu «Forced Choice: Das Geheimnis des Großen Bruders») dem Profanen, dem Billigen, dem Dummen, dem Gemeinen gewidmet sind und – «Gott sei Dank!» werden die vielen Zuseher ausrufen – ohne jede künstlerische Attitüde daherkommen.

Wie soll ich mich aus der Affäre ziehen? Wie mein Artus P. Feldmann gegebenes Versprechen einlösen? Wie mich diesem einzigartigen Mann, diesem erratischen Block, diesem Findling im literarischen Einerlei nähern? Vielleicht so, meint Bethchen B.:


Das Debakel

In allen Geschichten von Carver geht es um das Debakel menschlicher Beziehungen, um den Konkurs sozialer Verbindlichkeiten. Das Wort ‹Debakel› trifft es genau, verweist doch das französische «débâcle» auf einen plötzlichen Eisbruch, auf ein Durchbrechen, ein Einbrechen, oder auf eine überraschende Auflösung des Eises, auf dem man sich bewegt. Und das Wort ‹Konkurs› trifft es auch: Immer wieder laufen Menschen als Gläubiger ihrer eigenen sozialen oder ökonomischen Beziehungen zusammen, und reden und reden, und dann versuchen sie, die Wechsel einzulösen, die sie sich selbst als Versprechen auf eine ‹bessere› Zukunft gegeben haben. Aber die Wechsel sind faul. Niemand will sie haben. Sie selbst auch nicht.

Die Personen in Carvers Geschichten haben also den Offenbarungseid auf ihre sozialen und ökonomischen Beziehungen längst hinter sich, sie sind bankrott, pleite, ohne Hoffnung auf Änderung. Das Konzept, sich Liebe gleichsam auf Ratenzahlung zu kaufen, ist nicht aufgegangen, sie stecken – aussichtslos – in der Beziehungs-Schuldenfalle, in der sozialen und finanziellen Klemme, sie haben keine Spielräume mehr. Und doch leben sie in der besten aller Welten, in den Vereinigten Staaten von Amerika.


Ortlos im sozialen Raum

Die ‹handelnden› Personen in Carvers Geschichten sind zwar in ihren sozialen Räumen anwesend, doch sie fühlen sich verloren, nicht heimisch, allein, ja im Stich gelassen. Von wem? Von allen und allem. Auch von sich selbst. Gerade von sich selbst. Sie hatten so viel mit sich vor. Sie hatten sich soviel vorgenommen. Sie haben sich selbst so enttäuscht. Auch andere, klar, aber hauptsächlich und über alle Maßen sich selbst. Und so sind sie nun – ganz buchstäblich – von allen guten Geistern verlassen: Die sozialen Räume geben keine Orientierung, keinen Halt mehr, es gibt keine Geländer mehr, ja es besteht die Gefahr, daß sich die Räume bei dem geringsten Anlaß auflösen und zerfallen: «Ich stieß noch mehr Sachen runter. Es war mir egal. Immer weiter fielen Sachen runter.» [5] Das sind die letzten Sätze der Geschichte ‹Vitamine› im 3. Band, Seite 137.

Und immer ist der Ort, an dem sich Carvers Personen gerade befinden, nicht ihr Ort, nicht der Ort, wo sie ‹hingehören›. Immer ist es ein Ort ohne Verbindlichkeiten, immer ist er etwas passageres. Carvers Personen sind ortlos, heimatlos. Sie könnten auch woanders sein. Deswegen hören wir in fast jeder Geschichte jemanden sagen: «Ich wünschte, wir könnten […] irgendwohin gehen.» [6] Band 1, Seite 138. Oder: «Ich glaub, ich möchte hier weg. Irgendwo anders hin.» [7] Band 1, Seite 247. Oder: «Er wußte nur, daß er aus der Stadt raus und versuchen wollte, noch einmal neu anzufangen.» [8] Band 1, Seite 251. Oder: «Er spürte einen Lufthauch, der von dem Loch im Fenster her sein Gesicht streifte. ‹Da geh ich hin›, sagte er. ‹Da raus›, sagte er und zeigte mit dem Finger hinaus.» [9] Band 2, Seite 173. Oder: «Dann sprachen wir darüber, wie viel besser wir dran wären, wenn wir nach Arizona gingen oder in eine ähnliche Gegend.» [10] Band 3, Seite 123. Und so weiter. Immer wieder. Weg von hier. Schnell weg. Nur weg. Ringsherum, ja überall scheint es ‹besser› zu sein, als da, wo man gerade ist. Doch wenn es überall besser ist, wohin soll man dann genau gehen, wie sich entscheiden, wohin sich wenden? «Da war nichts, wohin man gehen konnte.» [11] Band 1, Seite 126. Kein Ausweg, nirgends. Der soziale Raum als Falle. Und Carvers Helden spüren, daß es so nicht weiter gehen kann. Aber es geht so weiter.

Und deswegen spannen Carvers Kurzgeschichten – mit ganz wenigen Andeutungen – emotional äußerst dicht besetzte soziale Räume auf, die voller Streit und Gewalt, Verrat und Betrug, Mißgunst und Neid, Scham und Einsamkeit, und vor allem – Angst sind. Angst vor der Einsamkeit, Angst vor fehlender Liebe, Angst vor Gleichgültigkeit und mangelnder Anerkennung, Angst vor der Unveränderbarkeit, Unabdingbarkeit und Unverrückbarkeit der eigenen Position im ortlosen Ort. Carvers Personen bewegen sich auf einem sehr dünnen Eis. Und an einer einzigen Stelle in all diesen Geschichten voller persönlicher und sozialer Debakel spricht dies auch jemand aus: «‹Ehrlich, Jill›, sagte er, ‹ganz dünnes Eis. Bricht jeden Moment ein … weiß nicht.›» [12] Band 1, Seite 224.


Sprachlos im Sprechen

In Carvers Geschichten bewegen sich Menschen in einer schmerzhaften und dazu schrecklich selbstverständlichen Hohlheit und Indifferenz sprachlicher Zeichen. Carvers Personen sind sich in ihrer Überzeugung, daß die wenigen ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Zeichen auf die Wirklichkeit verweisen, so sicher, daß sie eigentlich nichts mehr sagen müßten, denn die Wirklichkeit spricht für sich, sie muß nicht mehr ausgedrückt, in Zeichen übersetzt werden. Dies ist die eine Quelle der Sprachlosigkeit. Aber wenn Carvers Helden dann einmal «wirklich» etwas sagen wollen oder müssen, dann fehlen ihnen die Möglichkeiten. Das ist die zweite Quelle der Sprachlosigkeit. Und es öffnet sich ein unüberwindlicher Hiatus zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Sprache, Sprache und Sprache, Sprache und Wirklichkeit, Wirklichkeit und Wirklichkeit.

Dennoch sprechen die Menschen in Carvers Geschichten. Ja sie sprechen viel. Was sollen sie sonst tun: «Sie redete weiter, als hätte ich nichts gesagt. Vielleicht hatte ich nichts gesagt.» [13] Band 3, Seite 125. Worüber sprechen sie? Über das Leben. Wie sprechen sie darüber? So wie es jeder von uns auch tun würde. Das Erstaunliche ist, immer wenn jemand in einer Geschichte etwas sagt, haben wir als Leser oder Leserinnen den Eindruck, daß es nicht nötig war, das zu sagen, daß das Gesagte nicht traf, ja daß es nicht treffen konnte, außer daß es jemanden im Bösen treffen sollte, da es einfach nur häßlich war. Wir lernen beim Lesen schnell, daß es in ortlosen Orten und emotional gespannten Fallen eigentlich nichts zu sagen gibt. Unerträgliches Schweigen im Sprechen. Dröhnende Stille des Ausgesprochenen. Konformes Geschwätz, Alltagslügen, Geräusche, Zentralrede. Und tatsächlich gibt es immer wieder Formulierungen wie «Damit war alles gesagt!» oder «Was sollte dazu noch gesagt werden?». Wie in einer Talkshow: «Wes sagte, er wünschte, er könnte alles noch einmal machen und es diesmal richtig machen. Sie lieben dich, sagte ich. Nein, das tun sie nicht, sagte er. Ich sagte: Eines Tages werden sie vieles verstehen. Vielleicht, sagte Wes. Aber dann spielt es keine Rolle mehr. Das kannst Du nicht wissen, sagte ich. Ich weiß ein paar Sachen, sagte Wes […].» [14] Band 3, Seite 51. Tja, so geht das. Kein Ausweg, nirgends. Das Leben als Daily-Soap. Sprachgefängnis. Lebenslänglich. [15] Natürlich erinnert Sie dies, lieber Leser und liebe Leserin, an das Zitat von Botho Strauß, welches wir als ein Motto unserem «Arbeitspapier Nr. 2» vorangestellt haben: «Sie sprachen nicht, sie streiften durch die verlassene Öde des ausgesprochenen Sprechens. Einsam und allgemein, zwei aussichtslos sich ansehende Irgendwies, und zwischen ihnen ein soziales Geräusch, durch das sie sich nicht näher kamen. Und manchmal, kaum bemerklich, ein Versuch, ein Drang – doch die Sprache, wenn sie sie wirklich brauchten, wich zurück wie das Wasser unter dem Kinn des Tantalos.» (Botho Strauß (1987): Niemand anderes. München: Hanser Verlag. Seite 152)

Ein einziges Mal in all' den verschiedenen Geschichten von Carver hat ein Mensch die überraschende Einsicht, daß er nur das aufsagt, was ohnehin von allen sagbar ist und was ihm auch noch vorgeplappert wurde. Ein einziges Mal beobachtet sich jemand dabei, wie er Floskeln aus der Zentralrede abruft. Und natürlich ist es eine Frau: «Sie hörte sich das sagen und dachte, wie ungerecht es war, daß die einzigen Worte, die ihr über die Lippen kamen, von der Art der Wörter waren, die in Fernsehsendungen benutzt wurden […]. Sie wollte, daß ihre Worte ihre eigenen Worte waren.» [16] Band 3, Seite 107.


Die Beste aller Welten

In Carvers Geschichten bleibt die Frage offen, ob es besser ist, eine Arbeit oder keine zu haben. Diejenigen, die einen Job haben, kommen morgens, mittags oder abends zerpatscht vom Schichtdienst nach Hause, und die ohne Arbeit sitzen den ganzen bösen Tag lang zerpatscht zu Hause. Beides scheint in der besten aller Welten ohne Perspektive zu sein. Denn einen Job zu haben im Wunderland des Kapitalismus, ermöglicht es zwar, zu überleben, aber eben soeben nur, haarscharf, knapp, immer an der Grenze entlang, mit 1000 unerfüllten Lebenswünschen.

Es fällt auf, daß niemand in Carvers Geschichten eine wie auch immer geartete Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in der besten aller Welten äußert. Das ‹System› ist ganz offensichtlich tabu. Es scheint allen klar zu sein, daß es zu der besten aller Welten keine Alternative gibt. Und wenn jemand ‹weggehen› will, dann niemals in ein anderes Land, immer nur in eine andere Gegend desselben Landes, wo gerade die wirtschaftliche Lage etwas besser sein soll. Ja, die Carver-Personen können sich eine Welt außerhalb der besten aller Welten gar nicht vorstellen.

Und da sie so offensichtlich emotional, sozial und ökonomisch scheitern, versuchen die Personen in Carvers Geschichten immer wieder ‹Ordnung› in ihrer Welt zu schaffen, Unerledigtes anzupacken, in ihrer Biographie aufzuräumen («Ich glaube, ich möchte meine Kinder anrufen.» [17] Band 2, Seite 169.), aus der emotionalen, sozialen und ökonomischen Tristesse auszubrechen und ihren permanent dräuenden Bankrott auf allen Ebenen abzuwenden. In der besten aller Welten versuchen Carvers Personen eigentlich nichts anderes, als sich zu behaupten und den Kopf oben zu behalten. Sie sind auf der verzweifelten Suche nach Würde, nach Geltung, nach Glück. Sie möchten eine Bedeutung, eine Wichtigkeit haben im Leben, vor allem auch im Leben anderer. Und sie kommen auch nicht im Entferntesten auf den Gedanken, daß ihr täglich erlebtes Debakel etwas mit ihrer Leitkultur, also der Gesellschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika zu tun haben könnte, in der ‹politische Freiheit bei gesellschaftlicher Knechtung› (Hannah Arendt) herrscht. [18] Das Zitat ist Ingo Schulzes Einleitung zu Band 2, Seite 11 entnommen.


Der Carver Touch

Carvers Erzählungen sind nicht nur berühmt geworden, weil sie so kondensiert und konzentriert sind, daß nichts Überflüssiges mehr in ihnen steckt, und jeder einzelne Satz eine Aufgabe hat. Nein, Carvers Ruhm gründet in erster Linie auf den Schlußzeilen seiner Geschichten. Sie sind es, die den Carver-Touch herstellen. Der ganze vorhergehende Text einer Erzählung ist nur eine Art Vorbereitung. Hier wird mit wenigen Pinselstrichen eine spezifische Stimmung erzeugt. Der Schlußsatz aber zeigt dann, was mit der Erzählung gemeint war. Plötzlich erhellt sich, was eben noch geahnt wurde, was noch dunkel und unklar war. Mit dem Schlußsatz öffnet sich ein Tableau mit den Spielregeln, die sich Carver für diese eine Geschichte ausgedacht hat. Und für alle anderen. Denn die Grundregeln wiederholen sich.


Schlußbemerkungen

Lieber Leser, liebe Leserin, ich möchte Ihnen nun weder meine Lieblingserzählung vor die Nase halten noch Ihnen einen Überblick über Carvers verschiedene Topoi geben. Nur eins noch: Wenn Sie alle Erzählungen von Carver lesen – und das sollten Sie unbedingt tun – wird Ihnen auffallen, daß die drittletzte Geschichte im zweiten Band («Alles klebte an ihm») die erste ist, die einen einigermaßen versöhnlichen Ausgang hat. Und dies nach 36 Geschichten voller Debakel! Und besonders beeindruckend finde ich die zwei Versionen einer Geschichte: Im zweiten Band gibt es eine etwas kürzere Version («Das Bad»), die – wie gewohnt – auf ein Debakel zu steuert. Und dieselbe Geschichte, nur diesmal etwas ausführlicher, endet im dritten Band – und in der zweiten Fassung – überraschend versöhnlich und friedlich («Eine kleine gute Sache»). Es ist sehr spannend und aufschlußreich, die beiden Erzählungen parallel zu lesen und zu sehen, wie Carver hier die unterschiedlichen Ausgänge – und damit unterschiedliche Welten – konstruiert!

Der zweite Band von Carvers Erzählungen erscheint mir der ‹härteste› zu sein. Und im dritten Band werden – nach meinem Empfinden – Tonfall und Stimmung der Geschichten weicher, positiver, friedlicher, ohne daß Carver weniger genau beobachten würde!

Ach ja, und noch eine Bemerkung: Robert Altmann hat vor ein paar Jahren neun Geschichten von Carver in einen Zusammenhang gebracht und einen Film gedreht: «Short Cuts». Da flackerte das Interesse an Carver mal kurz auf. Aber nur bei denen, die ohnehin wußten, daß das eben Geschichten von Carver waren. Das waren die üblichen Verdächtigen. Und die haben – zu Hause, nach dem Film – einen Band von Carver aus dem Regal genommen, sich auf das alte rote Sofa gesetzt, das Buch aufgeschlagen, hineingeguckt, ein wenig geblättert, sich an manches erinnert, vielleicht auch wirklich angefangen, eine Geschichte zu lesen, – und dann haben sie doch wieder nur den ganzen Abend aus dem Fenster in die Nacht geguckt und geträumt und gesonnen; später dann konnten sie nicht so gut schlafen. Es war keine Ruhe in ihnen. Das war der Carver-Touch.



Kommentare


8. Januar 2002

Lieber Helmut,
da ich die Erzählungen von Raymond Carver sehr schätze, war ich zunächst etwas erschrocken, als ich seinen Namen als Titel eines Traktates im Skepsis-Reservat wiederfand; denn ich dachte sogleich, in diesen lachhaften Zeiten würde nun auch endlich Raymond Carver durch die Pop-Mühle gedreht und bis zur Unkenntlichkeit weggelacht, oder als Aufhänger für eine beliebige Pop-Allüre mißbraucht. Klar, ich hätte es eigentlich wissen müssen, daß ihr das im Reservat nicht macht, aber trotzdem, ich hatte arge Bauchschmerzen.
Um so schöner dann die Erfahrung, daß Du die Geschichten des strahlenden, ängstlichen, anfälligen, verstörten Ober-Helden meines Parnaß' überaus fair einfängst. Ja, ‹fair› ist das richtige Wort. Manchmal denke ich sogar, Du machst es zu gut. Du analysierst so überaus stark (und – wie ich finde – überaus zutreffend), die Leser und Leserinnen Deines Traktates bekommen ein so klares Bild von Carvers Erzählungen, daß sie recht wenig angeregt werden, die Geschichten selber zu lesen. Kann natürlich aber auch mein persönlicher Eindruck sein.
Was ich in Deiner Analyse, in Deinem Traktat über Raymond Carver vermisse (War ja klar, daß ich noch was zu kritisieren habe!), ist die Rolle des TV. Wenn ich mich nicht irre, erwähnst Du zwar die eine wunderschöne kleine Szene, wo die Mutter vor dem Krankenhaus steht (in der Geschichte «Eine kleine, gute Sache») und sich dabei ertappt, wie sie «Wörter aus Fernsehsendungen» benutzt, um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, daß sie gerade ihren todkranken Sohn im Spital zurückläßt.
Ansonsten aber spielt in Deiner Analyse von Carvers Geschichten das Medium, welches in der Besten aller Welten die Hauptrolle spielt, keine Rolle. Dabei ist das TV (remember Bruce Springsteens «57 Channels (And Nothin' On)») in vielen Geschichten nicht nur Accessoire, sondern ein ganz wichtiges Bestimmungsstück in der von Carver erzeugten Stimmung von Ort- und Aussichtslosigkeit. Ich könnte auch sagen, daß in der eigentlichen Gesellschaft des Spektakels das TV niemals abgeschaltet werden darf. Und dennoch werden die sozialen Räume nur äußerst mühsam von der Tages- und Nachttaktung des TV zusammengehalten. Ich erinnere mich da an die Geschichte, in der ein schlichter Kühlschrank kaputt geht und der Mann auf dem Sofa vor dem TV herumliegt. Ganz dünnes Eis! Und selbstverständlich läuft das TV, wenn Gäste oder Kunden die Szene betreten. Warum auch nicht? Das TV hüllt alles ein. Und: Da weiß man wenigstens, wo man hingucken soll.
Besonders anrührend finde ich den Plot in der Geschichte «Kathedrale», wo ein Mann und eine Frau einen blinden Gast haben. Der Fernseher läuft (natürlich) und dann erzähle ich nicht mehr weiter. Diese Geschichte ist so wunderbar, die muß frau schon selber lesen.
Beste Grüße aus Berlin!
Yvonne
P.S. Lieber Helmut, so ganz klar ist mir jetzt nicht mehr, warum ich diesen Brief an Dich geschrieben habe. Lassen wir ihn einfach so stehen, o.k.?



Erstellt: 28. November 2001 – letzte Überarbeitung: 27. August 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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