BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Siri Hustvedt: Being a Man»
von Henriette Orheim
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«Wandlungen des Ichs hängen damit zusammen,
wo man ist,
und Identität ist von anderen abhängig.»
(Siri Hustvedt)

«Wörter können am Boden zerstören,
und sie können heilen.»
(Siri Hustvedt)

Ich möchte vorausschicken, daß ich kleine kluge Essays sehr mag. Sie haben für mich, wenn sie in anmutiger Form verfaßt wurden, zum einen etwas anziehend feuilletonistisches, für den Tag geschriebenes, zum anderen aber eben auch, und das verschafft das besondere Vergnügen beim Lesen, etwas weitreichenderes, bestimmte Zeitläufte und soziale Räume widerspiegelndes, kulturphysiognomisches, lebensvolles, ja, ethnographisches. Und im besten aller Fälle erfährt die Lesende solcher geglückter Essays etwas über die essentiellen Grundprobleme unseres Daseins und über Möglichkeiten der Weltbewältigung.

Im September 2000 erschien im Rowohlt Verlag unter dem Titel ‹Nicht hier, nicht dort› ein Essayband von Siri Hustvedt, in dem sie - als Tochter norwegischer Einwanderer - nicht nur ihren geographischen Herkunftsort zwischen den Kulturen Norwegens und der USA reflektiert, sondern auch über die Möglichkeiten der Sprache nachdenkt, das auszudrücken und zu bezeichnen, was wir gerne ausdrücken und bezeichnen würden. Sie erzählt in diesem Glücksfall von Buch, wie sie ihren familialen Wurzeln in Norwegen nachforscht, bis hin zu der anrührenden Szene, in der sie in der Nähe von Voss einen Berg hinaufklettert zum Ursprungsort ihrer Familie, einem Haus auf einer kleinen Lichtung: ‹Hustveit› oder ‹Hustvedt›. Und immer ziehen Wörter sie in ihren Bann, insbesondere ‹unstete›, changierende Wörter, die auf die prekäre Beziehung zwischen Wörtern und Dingen verweisen: «Wacklige Wörter ziehen mich an.»

Aber ich möchte Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, ja den neuen Essayband von Siri Hustvedt vorstellen: ‹Being a Man›, erschienen im Dezember 2006 bei Rowohlt. Auch dieses Buch ist ein Glücksfall, denn Hustvedts Reflektieren, Sinnen und Denken über die Möglichkeiten der Sprache als Möglichkeiten des Lebens ist ganz wundervoll gereift, ja, fast abschließend und endgültig. In diesem Band schaut sie wieder auf einige bedeutsame Emergenzen ihres Lebens. Nur zum Vergleich, damit Sie ahnen, wie gehaltvoll ihre Essays sind: Andere Autoren oder Autorinnen würden Ereignisse als ‹Stationen des Lebens› aneinander reihen, und unerträgliche Autoren und Autorinnen würden die ‹Prominenten› aufzählen, denen sie in ihrem Leben begegnet sind. Wie gesagt: Nur zum Vergleich. Damit sie ahnen, welchem Reichtum, ja, welchem Schatz wir hier begegnen.

Ich möchte Sie mit drei der insgesamt neun Essays kurz bekannt machen, um Sie zum Lesen derselben zu verführen. Der letzte Text - ‹Auszüge aus einer Geschichte des verwundeten Selbst› - skizziert Hustvedts emotionale und psychische Entwicklung in den ersten zwanzig Jahren ihres Lebens. Sie erinnert sich an triftige Situationen, Kontexte und Anforderungen, die ihre Entfaltung als ‹Person›, ihre Weiterentwicklung nachhaltig beeinflußten. Nur ein Beispiel: In einer Sonntagsschule erschreckt eine Lehrerin Siri Hustvedt mit dem Satz: «Ihr müßt Gott mehr lieben als alle und alles.» Siri fragt zurück: «Mehr als meine Eltern?» Die Antwort: «Ja!» Nächtelang quält sie sich schlaflos mit diesem Satz und diesem ‹Ja› herum, bis sie schließlich eines Morgens ihre Mutter einweiht: «Mrs. Y hat gesagt, wir müssen Gott mehr lieben als unsere Eltern.» Ihre Mutter sieht sie kurz an und sagte: «Unsinn!» Ach! Diese Erleichterung, dieser glückselige Schwebezustand! Und wie leicht können wir uns vorstellen, wie eilige, nachlässige, unkonzentrierte, gleichgültige, überforderte Eltern in diesen wenigen und für die Entwicklung eines Kindes so wichtigen und entscheidenden Situationen versagen.

In dem Essay ‹Charles Dickens und das kranke Bruchstück› denkt Hustvedt über den Zusammenhang von Wörtern und Dingen und Wörtern und dem ‹Ich› nach. Als Folie dazu wählt sie Dickens' Roman ‹Unser gemeinsamer Freund›. Dickens hat ja - mit großer Freude und Behutsamkeit - in all' seinen Werken Namen für seine Haupt- und Nebenpersonen gewählt, die über das angeblich reine Zeichen hinausgehen. Und in ‹Unser gemeinsamer Freund› wird die Kluft zwischen Namen oder Wörtern und Dingen oder Personen immer wieder liebevoll beschrieben und beschworen: «Metaphern verändern immer die Art, wie wir Dinge in unserem Kopf sehen.» Sagt Siri Hustvedt. Und wendet sich im Verlauf ihres Essays gegen die vielen Wörter (wie ‹Freiheit› oder ‹Wahrheit›), die von Politikern, Bürokraten und Ideologen benutzt werden, um das Eigentliche zu verhüllen: «Schlimmstenfalls ist diese Sprache nur Geräusch.»

Doch auch das ‹Ich› braucht Wörter, die über Geräusche hinausgehen, braucht, um sich ‹gesund› entwickeln zu können, eine kontinuierliche Selbsterzählung. Ein ‹Ich› ist nur innerhalb von Sprachstrukturen und Narrationen denkbar. Und die werden eben auch von anderen Personen aus dem sozialen Raum eingebracht: «Wird die Beziehung abgeschnitten, verschwindet das Ich. Die Eingesperrten, Isolierten und Unerkannten gehen unter.» Das Selbst erscheint bei Dickens und bei Hustvedt als bedrohte Einheit. Und die Kunst, es zusammenzusetzen, ist kein einsames Spiel. Jedes ‹Ich› braucht ein ‹Wir›.

Im letzten Essay, den ich vorstellen möchte, kreist Siri Hustvedt an Hand des Romans ‹Damen in Boston› von Henry James um die Spannung zwischen ‹Persönlichem› und ‹Unpersönlichem›, ‹Privatem› und ‹Öffentlichem› und ‹Besonderem› und ‹Allgemeinem›. Diese Wörter tauchen in dem Roman immer wieder auf, aber es ist nicht so leicht, herauszubekommen, was sie für die verschiedenen Hauptpersonen bedeuten. Denn Wörter sind da, wo Öffentliches und Privates sich kreuzen. Ein Hauptpunkt in Hustvedts Argumentation ist nun, uns zu zeigen, wie öffentliche Personen - nicht nur Prominente oder Politiker - unweigerlich von ihrem ‹Ich› weg und hinüber zu einem ‹man›, einer dritten Person gleiten, und damit zu Bildern, Waren und Markenzeichen werden. Sie existieren fortan als von ‹eigenen Merkmalen› entleerter Automat, der triviale und unpersönliche Plausibilitäten und Phrasen aufsagt - und weiter aufsagen muß, um den Status einer öffentlichen Person nicht zu verlieren.

Über den wunderbaren Essay ‹Being a Man› und die weiteren Texte sage ich nichts. Lesen Sie sie selbst.



Erstellt: 12. April 2007 - letzte Überarbeitung: 12. April 2007
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