BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Eduard von Keyserling: Wellen»
von Henriette Orheim
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«Die gewaltsamen Farben am Himmel erloschen jäh.
Die farblose Durchsichtigkeit der Sommerdämmerung
legte sich über das Land und das Meer, jetzt lichtlos,
und schien plötzlich unendlich groß und fremd.
Auch das Rauschen war nicht mehr so geordnet eintönig und taktmäßig;
es war, als ließen sich die einzelnen Wellenstimmen unterscheiden,
wie sie einander riefen und sich in das Wort fielen.»

Welch ein Tableau! Da mietet eine Generalin von Palikow - begleitet von ihrer Gesellschafterin Malwine Bork, ihrer Köchin Frau Klinke, ihrer Mamsell und ihrem jungen Dienstmädchen Ernestine - ganz standesgemäß ein Haus an der Ostsee, um dort mir ihrer Familie die Sommerferien zu verbringen. Sie erwartet ihre Tochter, die Baronin von Buttlär, mit deren Kindern, den beiden Teenagern Lolo und Nini und dem fünfzehnjährigen Wedig. Etwa später sollen noch der Baron Buttlär nachkommen und Lolos Bräutigam, Hilmar von dem Hamm.

In der Nähe des gemieteten Hauses - dem Bullenkrug - liegen noch ein paar Fischerhütten, in denen eine ‹verwachsene› Existenz, der Geheimrat Knospelius, unzweifelhaft Keyserlings alter ego, seine Ferien verbringt, und in denen eben sie wohnt, die Gräfin Doralice, die ihren dreißig Jahre älteren Gatten verließ, um einem jungen Maler zu folgen. Natürlich versucht die Generalin ihre Familie davon zu überzeugen, daß jeder Kontakt mit dieser ‹Person› unbedingt zu vermeiden sei. Doch nicht nur die Männer, Baron Buttlär und Hilmar von dem Hamm, sondern auch die Kinder finden Doralice sehr interessant. Das ist eben so, sogenannte schlechte Frauen faszinieren. Immer.

In diesem vermeintlichen Idyll zwischen Meer, Dünen, Fischerhütten und kleinen Wäldern stiftet Doralice nun solche erotischen und psychischen Verwirrungen und Verwicklungen, daß am Ende des schmalen Romans die Generalin von Palikow samt Familie überstürzt abreisen und jemand versuchen wird, sich umzubringen. Doch es stirbt auch tatsächlich jemand.

Am faszinierendsten - und traurigsten zugleich - ist jedoch das Gefühl, welches sich bereits nach dem ersten Auftreten von Doralice und dem Maler, Hans Grill, einstellt: Die beiden lieben sich nicht mehr. Sie sind von den Möglichkeiten, die sich eingeräumt haben, überfordert - und scheitern. Verführung und Entführung sind zwar große Ereignisse, sind Wunder, von denen man lange zehren kann, doch die Berufung darauf schwächt sich ab:

«‹Du bist doch in mein Leben hereingekommen wie ein Wunder, und noch bist du jeden Augenblick ein unbegreifliches Wunder. Wie soll da etwas anderes Platz haben. Immerfort ein Wunder zu erleben, strengt an.› ‹Und glaubst du›, unterbrach ihn Doralice ein wenig gereizt, ‹es strengt nicht an, immer, den ganzen Tag, ein Wunder zu sein?›»

Bemerkenswert ist eine Szene, in der Hilmar von dem Hamm, der sich naturgemäß in Doralice verlieben muß, Doralice im Beisein von Hans Grill einlädt, mit ihm eine Bootsfahrt zu machen. Doralice hofft, daß Hans dagegen Bedenken hat und sie bittet, bei ihm zu bleiben. Aber nein, Hans spielt den offenen, eifersuchtslosen, die Möglichkeitsräume preisenden Künstler und gibt Doralice mit einer großen Geste her - und Doralice verachtet ihn deswegen. Wer sich hier an Jean-Luc Godards ‹Le Mépris› von 1963 erinnert, liegt ganz richtig.

Und noch etwas drängt sich in zunehmender Weise zwischen Doralice und Hans: Anstatt zu malen fährt Hans immer öfter mit einem Fischer auf das Meer hinaus. Und Doralice rümpft darüber die Nase, sie mißachtet das. Wer sich hier an die wunderbare Eustacia in Hardys ‹Clyms Heimkehr› erinnert, die darob verzweifelt, daß Clym zu einem einfachen ‹Ginsterschneider› herab sinkt, liegt schon wieder richtig.

Der 1911 erschienene Roman ‹Wellen› von Eduard von Keyserling ist eine überaus präzise psychologische Studie, die uns die vorgestellten Menschen lebendig und wahrhaftig erscheinen läßt. Wie der ‹verwachsene› und später noch erblindete Autor eine solche Menschenkenntnis gewinnen konnte, bleibt der Leserin rätselhaft. Ach, und wie lieben wir die junge Lolo, die einen Reifesprung vollzieht und plötzlich versteht, daß der enge soziale Raum ihrer Familie, in dem sie sich wie auf einer Folie der Selbstverständlichkeiten zu bewegen hat, ihr alles über die Geheimnisse und Eigentlichkeiten des Lebens vorenthält.

Am Ende des Romans gehen ein Mann und eine Frau - Tag für Tag und nebeneinander her - am Strand entlang. Und die Frau blickt immer wieder auf das Meer hinaus:

«Wenn sie so an den Wellen entlang ging, die weiß mit leisem Prickeln über den Sand bis zu ihr hinaufliefen, da schien es ihr, als wollte das Meer sie zu etwas überreden, zu etwas, gegen das sie sich sträubte, gegen das sie stritt […] Allein dieser Streit mit dem Meere hatte für sie eine furchtbar erregende Anziehung

Das Meer zieht sie in seinen Bann, nimmt sie gefangen. Sie versucht zwar Tag für Tag, sich vom Meer zu lösen, doch es hält sie fest. So wartet sie darauf, «daß das Meer sie freigäbe.»



Erstellt: 8. Mai 2007 - letzte Überarbeitung: 14. Mai 2007
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