BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«D. H. Lawrence: Liebende Frauen»
von Henriette Orheim
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«Sie hörte zu und versuchte zu entschlüsseln, was er sagte.
Sie wußte so gut wie er, daß Worte an sich keinen Sinn tragen,
daß sie nur eine Geste sind, die wir vollführen,
eine stumme, bedeutungslose Pantomime.
[...]
Er wandte sich ihr verwirrt zu. Sprache verursacht immer Verwirrung.
Dennoch mußte man etwas sagen.
Welchen Weg man auch einschlug, wenn man vorwärts wollte,
mußte man sich seinen Weg erst bahnen.
Und etwas zu erkennen, sich mitzuteilen, bedeutete,
sich einen Weg durch die Gefängniswände zu bahnen.»

Der Auftakt könnte uns an Jane Austen erinnern. Da sitzen zwei Schwestern - Gudrun und Ursula, beide Mitte zwanzig und Lehrerinnen - stickend und zeichnend im Haus ihres Vaters beisammen und - plaudern. Auch das Thema ihrer Unterhaltung scheint aus einem Austen-Roman zu stammen:

«Ursula», sagte Gudrun, «du willst wirklich nicht heiraten?»

Aber schon die Antwort zeigt uns, daß der Roman nicht mehr in den Zeiten Jane Austens spielt, sondern in der Neuzeit:

«Stelle dir irgendeinen Mann vor, den wir kennen, stelle dir vor, wie er jeden Abend nach Hause kommt und ‹hallo› sagt und dir einen Kuß gibt...» Es entstand ein tiefes Schweigen. «Ja», gab Gudrun kleinlaut zu. «Einfach unmöglich. Der Mann macht es unmöglich.»

Der 1920 erschienene Roman ‹Liebende Frauen› (Women in Love) von David Herbert Lawrence ist so radikal, seine Kritik an der englischen Kultur und Gesellschaft so umfassend, seine Missbilligung der bürgerlichen Rollen, die für Mann und Frau vorgesehen sind, so deutlich, seine epistemologischen Einsichten so klar, daß uns nicht nur der zunächst von Frieda Lawrence vorgeschlagene Titel ‹Dies Irae› sehr treffend erscheinen mag, sondern daß wir uns auch keineswegs wundern, zu welch heftigen Protesten konservativer Kreise die Veröffentlichung dieses Buches führte. Dazu kam, daß sich etliche Freunde und Bekannte von Lawrence aus der Londoner Künstlerszene in den in dem Roman geschilderten Personen so trefflich und unmißverständlich wieder fanden, daß sie darüber ziemlich erbost waren. Doch wollte Lawrence hier nicht einfach Leute aus seinem Umfeld ‹bloßstellen›, sondern eben zeigen, wie ein stagnierender, seelenloser, sich selbst genügender Kunstbetrieb auf den ersten Weltkrieg zuwankt.

Der Plot des Romans ist schlicht: Gudrun lernt Gerald kennen, einen reichen Grubenbesitzer, und Ursula Rupert, einen Schulrat. Beide Schwestern werden zu ‹liebenden Frauen›. Und auf über 800 Seiten werden nun die Möglichkeiten einer Beziehung zwischen Mann und Frau diskurriert und eruiert. Und D. H. Lawrence läßt uns in allen Diskursen zwischen den handelnden Personen, in allen Machtkämpfen, Auseinandersetzungen, Konflikten und Meinungsverschiedenheiten immer spüren, daß es hier nicht um ein billiges individuelles ‹tit for tat› geht, sondern um das Grundsätzliche: Um die Chancen eines erfüllten und nachhaltigen Lebens in einer bürgerlichen und materialistischen Kultur voller Lebensfeindlichkeit und Kälte: «Es ist alles so schrecklich. Es geht nur um Besitztümer, Besitztümer, die dich drangsalieren und dich deiner Individualität berauben.»

Lawrence greift die Metapher der Kälte gleich in der ersten Vorstellung von Gerald auf: «Etwas Nordisches umgab ihn, das sie magnetisch anzog. Sein klarer nordischer Teint und sein blondes Haar schienen zu glitzern, wie durch Eiskristalle gebrochenes kaltes Sonnenlicht. Und er sah so frisch aus, so makellos, so rein wie ein arktisches Wesen.» Und in ganz wunderbarer und folgerichtiger Weise läßt Lawrence den Roman in den Alpen, in Schnee und Eis enden. Ja, das ist großartig!

Im Gegensatz zum ‹Tatmenschen› Gerald ist Rupert ein zerquälter und überaus anstrengender Geistesmensch, der sich nicht darin unterbrechen kann, über das Leben, die Gesellschaft, die Zukunft der Zivilisation, die Aufgaben der Kunst und insbesondere über das Verhältnis von Mann und Frau, also das, was wir heute die ‹Gender-Problematik› nennen, zu philosophieren und nachzudenken. In seinen langen Gesprächen mit Ursula entdecken wir all die Fragen und Aporien, die uns bedrängen - falls uns überhaupt etwas Inneres zu bedrängen vermag.

Sehr wichtig für den Roman ist nun die nahe und beinahe intime Freundschaft zwischen Gerald und Rupert, den beiden so unterschiedlichen Hauptpersonen. Vermutlich hat dies bei den intensiven Kritiken an diesem Buch eine Rolle gespielt. Ich erinnere hier nur an den Furor und die Perfidie, mit dem ein britisches Gericht - und die britische Öffentlichkeit - Oscar Wilde 1895 wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilte. Zu der Zeit, in der dieser Roman spielt, ist das erst fünfzehn Jahre her.

Beide Paare - Gudrun und Gerald, Ursula und Rupert - suchen in dem Roman einen Ausweg aus den fest gefügten Rollenvorschriften, Klischees und Konventionen. Und es ist spannend, zu lesen, wie das eine Paar auf einer fast postmodern anmutenden jeweiligen Ich-Haftigkeit beharrt und sich in grausame, gewalttätige und letztlich unlösbare Machtkämpfe verstrickt, bei denen die Andersartigkeit des ‹Anderen› eben weder toleriert noch angenommen wird. Das andere Paar beharrt ebenfalls auf einem ‹Eigenraum› für ihr ‹Ich›, nimmt dies jedoch als unbedingte und hinreichende Grundlage und Voraussetzung, um den anderen als ‹Anderen› gelten zu lassen und ihn nicht gemäß eigener Vorstellungen einzuzäunen.

Können wir aus diesem vor beinahe 100 Jahren geschriebenen Buch etwas über unsere Möglichkeiten zur Weltbewältigung lernen? Oh ja. Und wir können uns angesichts des finalen Kapitalismus, der schmutzigen ‹Gesellschaft des Spektakels› und der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich mit einem Gedanken Ruperts trösten, den - zugegeben - schon viele von uns gedacht haben:

«Wenn die Menschheit in eine Sackgasse geraten war und sich selbst entbehrlich machen sollte, so würde das zeitlose schöpferische Mysterium eben ein anderes, ein edleres, noch herrlicheres Wesen hervorbringen [...]. Das Spiel war nie zu Ende.»



Erstellt: 25. Juni 2007 - letzte Überarbeitung: 4. Juli 2007
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