BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Jean-Philippe Toussaint: Monsieur»
von Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

«Monsieur wäre, ehrlich gesagt,
außerstande gewesen zu erklären,
warum er und seine Verlobte miteinander gebrochen hatten.
Er hatte die Angelegenheit nicht recht verfolgt
und erinnerte sich nur, daß ihm die Anzahl der Dinge,
die ihm vorgeworfen wurden, beträchtlich erschienen war.»

Ein seltsames Buch. Ich fand es vor vielen Jahren in einer Buchhandlung in Kiel. Mir war das Foto auf dem Schutzumschlag aufgefallen, welches einen Mann in einem dunklen Anzug zeigt, mit Krawatte, Aktenkoffer und Zeitung, nur - es war kein Gesicht zu erkennen. Hm, dachte ich, ein gesichtsloser Mann? Ich schlug das Buch auf und las den Klappentext:

«Monsieur ist 29 Jahre alt, Geschäftsführer bei Fiat France, untadelig, sachlich professionell. […] Auf die Frage, ob sein Beruf interessant sei, antwortet er, er werde gut bezahlt.»

Meine Neugier war geweckt, ich kaufte das schmale Buch, setzte mich an die Förde und las es in kurzer Zeit zu Ende.

Jean-Philippe Toussaints zweiter Roman ‹Monsieur› (Monsieur) erschien 1986. Damals war Toussaint trotz seines im Jahr davor erschienenen und vorher von vielen Verlagen abgelehnten Romans ‹Das Badezimmer› (La salle de bain) noch völlig unbekannt, heute ist er als Autor und Filmemacher berühmt. Was ist nun das Besondere an diesem kleinen Werk, warum stelle ich es in der Reihe ‹Buchgeschichten› vor?

Nun, Toussaint kreiert hier einen bestimmten Prototyp von Mann, der uns allen schon begegnet ist. ‹Monsieur› ist ein ganz und gar unauffälliger Mann ohne Eigenschaften, ohne Konturen, ohne Leidenschaften, ohne einen Antrieb oder einen erkennbaren Willen. ‹Monsieur› hält sich aus allem heraus - dafür eckt er aber auch nirgendwo an. Alle wesentlichen Anregungen kommen für ‹Monsieur› von außen, er ‹tut nur, was ohnehin geschieht›, er tut so, als ob: Manchmal versucht er, «sich zwischen Zaudern und Zögern in die beruhigende Ausübung einfacher Gesten zu flüchten.» Ja, ‹Monsieur› lebt buchstäblich hinter einer Glasscheibe. Es ist klar, daß er gelegentlich in Situationen hinein gerät, denen er sich aufgrund seiner Kommunikations- und Entscheidungsunfähigkeit nur durch eine Flucht entziehen kann. Spannend ist, daß unser ‹Monsieur› ein moderner und postmoderner Mann zugleich ist (vgl. dazu unser ‹Arbeitspapier Nr. 11› und unsere kleine Reihe ‹Die Wahrheit über Männer und Frauen›).

Wenn Sie sich, liebe Leserin, in unserem ‹Skepsis-Reservat› ein wenig auskennen, dann ahnen sie, daß es sich bei unserem ‹Monsieur› um einen ‹Teflon-Mann› handelt. Diese ICD-Kategorie habe ich zusammen mit Tanja Bracelet vor einiger Zeit in die Wissenschaft eingeführt. Typisch für einen ‹Teflon-Mann› ist die ‹Teflon-Matrix›, ein spezifisches Konglomerat von Eigentümlichkeiten im Bereich der Vorstellungen und des Verhaltens, welches sich insbesondere in Mängeln in zwischenmenschlichen Kontakten, Diskursen und Beziehungen zeigt.

Toussaint hat hier ein kleines weises Buch mit wirklich sehr lustigen - und deshalb traurigen - Verwicklungen geschrieben, und das in einer meisterhaften Sprache. Ja, es gibt in diesem Buch nie einen durchgehenden ‹Fließtext›, sondern immer nur kleine, perfekte, abgegrenzte, pointillistisch aufgespießte sprachliche Preziosen und Miniaturen. Ich denke hier nur an die Beschreibung eines ‹Staatssekretärs›, den ‹Monsieur› in einem Salon der Familie Pons-Romanov trifft:

«Der Staatssekretär war ein ernster Mann, schlicht gekleidet, sehr dunkles, glatt zurückgekämmtes Haar und eine dicke Hornbrille, hinter der einer jener zweideutigen Blicke verschwamm, die eine Karriere zu zerstören vermögen. Er beugte sich vor, um Madame Pons-Romanov die Hand zu küssen, und sagte mit leidender Miene, er sei sehr glücklich, ihre Bekanntschaft zu machen. Nach diesen Worten lächelte er vor gedämpfter Zufriedenheit und setzte sich, die Bügelfalte seiner Hose anhebend, wieder in seinen Lehnstuhl. Während des Apéritifs verfolgte er in sehr aufrechter Haltung, den Kopf leicht vorgeneigt, wohlwollend das Gespräch und ließ von Zeit zu Zeit seinen Maharadschablick in die Runde schweifen.»

Ja, Toussaint beeindruckt mich sehr mit seinem sprachlichen Minimalismus, seinen genauen Beobachtungen und seiner Konstruktion eines zeitlosen Mannes als gut funktionierendem Automaten ohne Innenleben.



Erstellt: 30. Juni 2007 - letzte Überarbeitung: 11. Juli 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.