BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Dag Solstad: Scham und Würde»
von Henriette Orheim
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«Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge rauben,
dann nehmen Sie ihm gleichzeitig sein Glück.»
(Henrik Ibsen: Die Wildente)

Da ist Elias Rukla, ein Lehrer in den Fünfzigern, der seit 25 Jahren versucht, Schüler des Fagerborg Gymnasiums in Oslo nicht nur mit ihrer Muttersprache vertraut zu machen, sondern sie auch zu ‹bilden›. Doch an einem Montag im Oktober - ein grauer, drückenden Tag, der Himmel war bleiern, und einzelne schwarze Wolken trieben wie Schleier darüber - wird alles anders, wird sein Leben eine andere Richtung nehmen. Denn Elias Rukla wird - vielleicht zum ersten Mal in dieser Stärke und Nachhaltigkeit - die Erfahrung machen, daß sein Tun umsonst ist. Als er eine Klasse betritt, die kurz vor dem Abitur steht, und mit der Arbeit an Ibsens Wildente beginnen will, fällt ihm auf, wie feindlich die Schüler ihm gegenüber eingestellt sind:

«Er spürte, wie von ihnen als Gruppe ein massiver Unwille ausging, der ihren Körpern entströmte. Jeder für sich mochten sie mitunter sehr nett sein, aber zusammen in der jetzigen Anordnung hinter den Pulten, bildeten sie eine strukturelle Feindseligkeit, die sich gegen ihn und alles, wofür er stand, richtete.»

Nur widerwillig nehmen die Schüler ihre Kopfhörerstöpsel aus den Ohren, nur mit einem Seufzen schlagen sie bestimmte Seiten des Textes auf:

«Es war nicht so sehr die Tatsache, daß sie sich langweilten, sondern die gekränkte Miene, mit der sie ihre Langeweile zum Ausdruck brachten. […] Weshalb sollten sie sich das gefallen lassen? Wie lange sollten sie es sich noch gefallen lassen? Hat er das Recht, uns das anzutun? Er konnte förmlich sehen, wie sie dies dachten.»

Der Lehrer versucht das, was er seit 25 Jahren versucht: Interesse zu wecken. Er entwirft wundervolle Interpretationen, stellt überraschende Bezüge her, doch:

«Im selben Moment läutete die Pausenglocke, und die Schüler richteten sich augenblicklich auf, klappten die Schulausgabe der Wildente zu, erhoben sich und schritten ruhig und unbeirrt aus dem Klassenzimmer, am Lehrer vorbei, den sie keines Blickes würdigten […]. Vor zehn Jahren, dachte er, indem er aufstand, hätten sie ihn wenigstens den Satz beenden lassen.»

Elias Rukla überfällt ein überwältigendes Gefühl des Scheiterns. Er verläßt die Schule, beschimpft auf dem Schulhof die ihn neugierig umstehenden Schüler, und irrt in den Straßen Oslos herum. Das Gefühl seines Scheiterns weitet sich aus, es wird existenziell. Er denkt an die Beziehung zu seiner Frau, unter welchen Umständen er sie kennen lernte - und wie die letzten Jahre mit ihr waren. Er gesteht sich ein, daß er schrecklich unter den Banalitäten leidet, die von Zeitungen verbreitet werden, und daß er niemanden hat, mit dem er Gespräche führen kann, denn im Lehrerzimmer, inmitten von ‹Fachleuten›, wird nur über das TV-Programm vom Vortag oder über Kreditzinsen für Häuser und Autos gesprochen:

«Er hatte nichts mehr zu sagen, und es sah auch nicht so aus, als hätten andere in seinem Freundeskreis oder seiner kulturellen Schicht noch etwas zu sagen. Es schien, als interessierte es niemanden mehr, ein Gespräch zu führen. Sich richtig zu unterhalten, sich zusammen um eine Erkenntnis […] zu bemühen, und sei es nur um den Hauch einer momentanen Erkenntnis willen.»

Dag Solstads ‹Scham und Würde› (‹Genanse og verdighet›) entwirft ein faszinierendes, ein grandioses Bild des Scheiterns. Der in Norwegen mehrfach ausgezeichnete Autor zeigt uns, wie einsam jemand werden kann, wenn er schlagartig auf den Gedanken kommt, daß ihn mit seiner Welt nichts mehr verbindet, daß er nichts mehr zu sagen hat und daß da niemand ist, der ihm zuhören möchte. Ja, Elias Rukla, der unglückliche Held dieses Romans, ist sich sicher, daß er aus der Zeit gefallen ist. Er schämt sich sehr dafür und versucht, seine Würde wieder zu erlangen. Aber wie könnte dies geschehen? Gibt es einen Ausweg? Haben Sie eine Idee, liebe Leserin, lieber Leser?



Erstellt: 10. September 2007 - letzte Überarbeitung: 11. September 2007
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