BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Charlotte Brontë: Jane Eyre»
von Henriette Orheim
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«Ich glaube nicht, Sir, daß Sie ein Recht haben,
mir Befehle zu erteilen, nur weil Sie älter sind
oder mehr von der Welt gesehen haben als ich.
Ihr Recht auf Überlegenheit hängt davon ab,
wie Sie diese Zeit und Erfahrung genutzt haben.»

«Ich bin kein Vogel, und mich hält kein Netz.
Ich bin ein freies menschliches Wesen
mit einem unabhängigen Willen,
den ich jetzt dazu benütze, Sie zu verlassen.»

«‹Zweifelst Du an mir, Jane?›
‹Ganz und gar.›
‹Du vertraust mir nicht?›
‹Kein Fünkchen.›»

Liebe Leserin, lieber Leser, warum sollten Sie im Jahr des Herrn 2008 Charlotte Brontës (1816-1855) unter dem Pseudonym ‹Currer Bell› erschienenen Roman ‹Jane Eyre› (Jane Eyre. An Autobiography) lesen? Diese seltsame Mischung aus melodramatischen Szenen, romantischer Märchenhaftigkeit, groben Unwahrscheinlichkeiten und schrecklichen Schauerlichkeiten? Weil dies Buch damals, 1847 in London herausgegeben, ein ganz großer Erfolg war? Weil Jane Eyre mit ihrer bewundernswert ungezähmten Natur sich nicht damit zufrieden gibt, in einer möglichen Ehe zur Verschönerung des Heimes beizutragen, Tücher zu besticken und ab und zu Klavier zu spielen, sondern eine aktive und gleichberechtigte Rolle einnehmen und eben soviel zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen möchte, wie irgendein Mann? Ja, was kann uns denn heute im Zeitalter des ahistorischen postmodernen Postfeminismus noch interessieren an der so weit zurück liegenden Geschichte von Jane Eyres emanzipatorischen Eigenbewegungen? Selbst wenn diese Bestrebungen nach geistiger und ökonomischer Freiheit und Unabhängigkeit 1847 als Skandal empfunden wurden, was ‹haben wir denn heute davon›? Heute kann doch jede Frau machen, was sie will, oder? Was kann uns der Roman ‹Jane Eyre›, indem keinerlei ‹Feuchtgebiete› erkundet werden, also heute noch sagen? Nun, die Antwort ist: Ganz viel!

Im Gegensatz zu den postmodernen Roman-Heldinnen, die ganz post-kolonialistisch in fremde Länder eindringen, dort einen ‹Schwarzen› heiraten, und das Scheitern dieser Verbindung mit dem ‹Fremden an sich› dann ganz persönlich empfindend beschreiben, im Gegensatz zu all den postmodernen Roman-Heldinnen, die den ganzen Tag mit ihren ‹Gefühlen› zu tun haben und aufdringlich anklägerisch der ganzen Welt vorhalten, sie seien auf irgendeine Weise zu kurz gekommen, im Gegensatz zu all den postmodernen Roman-Heldinnen, deren Epistemologie nicht weiter reicht als bis zu dem Satz ‹Was kann die Welt mir geben?›, im Gegensatz zu all den aufgebrezelten postmodernen Roman-Heldinnen, deren Tun und Lassen, ja, deren sozialer Weltzugang sich mit der einzigen Frage ‹Und was hab ich jetzt ganz persönlich davon?› hinreichend beschreiben läßt, im Gegensatz also zu all diesen Roman-Heldinnen der Jetztzeit zeigt die wunderbare, äußerlich unscheinbare, herbe, kluge, rebellische, integre, individualistische und selbstbewußte Jane eine Haltung. Was? Eine moralische und ästhetische Haltung.

Das ist natürlich in der Postmoderne ein Schock. Eine Haltung nicht nur zu sich selbst zu haben, das eigene ‹Ich› nicht als den Mittelpunkt der Welt zu empfinden, das gilt in der Postmoderne als grenzwertig, wenn nicht gar als grenzdebil. Doch wie wunderbar ist es, von einer Heldin zu lesen, die unter allerschwierigsten Bedingungen als Waise aufwachsend sich einen eigenen Weg in die Welt bahnt und sich von einer von Männern beherrschten Klassengesellschaft nicht unterkriegen läßt, und das mit einem moralischen Rigorismus, der einem das Herz erwärmt. Moral? Ja. Muß das sein? Ja.

Nebenbei, doch nicht am Rande: Jean Rhys hat in ihrem großartigen Roman ‹Sargassomeer› eine Art Vorgeschichte zu Brontës ‹Jane Eyre› erfunden. In der Buchgeschichte dazu schrieb ich: «Jean Rhys macht die verstörenden kulturellen Differenzen, die in ‹Jane Eyre› ausgeblendet werden, sichtbar, indem sie die Leerstellen und die Lücken in Brontës Roman erforscht, zwischen den Zeilen liest und das Unausgesprochene ausspricht.» Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, das Buch von Jean Rhys noch nicht gelesen haben, dann beginnen Sie am besten mit Brontës ‹Jane Eyre›, um sich dann der ‹Vorgeschichte› zu widmen.

Ach ja, noch eine Bemerkung zum Schluß, aber nur für jüngere Leserinnen. Hört mal zu, Mädels, ihr glaubt ja, daß euch heute alles ganz einfach so zufällt, wenn ihr nur gut ausseht und schick gekleidet seid. Das Wort ‹Feminismus› sagt euch nix und eigentlich wißt ihr auch gar nicht, was es bedeuten soll. Ihr wißt aber, daß ihr, wenn ihr nur hart genug an euch arbeitet, es beim nächsten Casting vielleicht doch noch schafft. Denn das Leben ist kein Ponyhof, sondern eine Casting-Show. Meint ihr. Und die Pólis (das ist die Welt außerhalb von euch, die euch eure Lebensfolie liefert)? Ach ja, die Pólis. Ehrlich, Mädels, was geht euch die an? Wenn ihr also mal was ganz krasses lesen wollt, von einer Frau, die eine Haltung hat, und das eben nicht nur zu sich und ihren Klamotten und ihren Gadgets, sondern ‹überhaupt›, dann lest Charlotte Brontës ‹Jane Eyre›. Ihr mögt doch lesen, oder?



Erstellt: 4. Juni 2008 – letzte Überarbeitung: 5. Juni 2008
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