BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Benito Pérez Galdós: Fortunata und Jacinta - Zwei Geschichten von Ehefrauen»
von Henriette Orheim
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«‹Ich werde Ihnen beibringen,
was Sie noch nicht verstehen.›
‹Das wäre?›
‹Wie man lebt...
Leben ist unsere Hauptaufgabe in diesem Jammertal.
Und trotzdem, wie wenige wissen sie zu erfüllen.›»

Benito Pérez Galdós' (1843-1920) Roman ‹Fortunata und Jacinta - Zwei Geschichten von Ehefrauen› (Fortunata y Jacinta, dos historias de casadas) erschien 1887 und gehört in die große Reihe seiner zeitgenössischen spanischen Romane. Schon der Umfang dieses Werkes läßt uns ahnen, daß hier jemand die Lehren Comtes und Taines ernst genommen hat und an die großen naturalistischen Werke des Franzosen Emile Zola und an die verwegen breit angelegte ‹Comédie humaine› Honoré de Balzacs anknüpfen wollte. Und wie großartig Pérez Galdós das macht! Pérez Galdós analysiert in fast endgültiger Weise soziale Milieus und kommunale Systeme im Spanien des späten 19. Jahrhunderts. Ja, mit Pérez Galdós beginnt die moderne spanische Literatur. Blicken wir kurz auf das Wort ‹modern›, blicken wir also auf Comte und Taine.

Der Mathematiker und Philosoph Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (1798-1857) gilt als einer der wichtigsten Begründer des modernen Positivismus. Was ist Positivismus? Nun, der Positivismus lehnt alle Metaphysik, alle Absolutheitsvorstellungen ab und propagiert eine Wissenschaft, die sich auf das positiv Gegebene, also auf Tatsachen, Daten und Fakten beschränkt. Was sind Tatsachen? Durch sinnliche Erfahrung beschreibbare Phänomene. Auf die damit verbundenen unlösbaren Probleme für eine wissenschaftlich fundierte Empirie brauchen wir als Konstruktivisten hier nicht einzugehen.

Der Historiker und Geschichtsphilosoph Hippolyte Adolphe Taine (1828-1893) versuchte, Comtes naturwissenschaftliche Methodik zu einem literaturhistorischen Positivismus weiter zu entwickeln. In seinem 1864 erschienenen Hauptwerk sah er Werk und Eigenart großer Schriftsteller und Künstler durch drei Faktoren bestimmt:
  • die Rasse (also Abstammung, Erbanlagen),
  • das Milieu (Klassenlage, Sozialschicht, kommunales System) und
  • den Zeitpunkt (Geschichtliche Lage, Kulturepoche, Aktueller Makro- und Mikrokontext).
  • Wie oben schon gesagt: Pérez Galdós hat Comte und Taine ernst genommen und insbesondere – ganz wie Zola – Taines Einteilung mit Hilfe der von ihm eingeführten Hauptpersonen und Heldinnen seiner Romane literarisch dekliniert. Und wie breit ist der Strom der Personen und Ereignisse, wie liebevoll sind die detaillierten Beobachtungen in den verschiedenen Milieus. Da gibt es keinen allwissenden Erzähler, der uns zum Beispiel erklärt, wie die momentane psychische Verfassung einer Heldin in diesem Roman aussieht, nein, alles Psychische wird uns sichtbar gemacht mit Hilfe des im Detail beschriebenen Handelns oder Nicht-Handelns und der Dialoge und Gesten in den unterschiedlichen sozialen Räumen. Menschen erklären sich selbst, so Pérez Galdós, wenn man nur genau beobachtet, aus welchen Milieus sie kommen und in welchen Milieus sie sich bewegen. Das gefällt uns naturgemäß sehr, da wir uns gerne vorstellen, daß und wie ‹Wirklichkeiten› und die in diesen ‹agierenden› Personen sozial hergestellt werden.

    Und diese Milieus sind es, die den Roman so lesenswert machen. Denn Fortunata kommt aus der Unterschicht, und Jacinta lebt in der Oberschicht. Das sind zwei soziale Räume, die eigentlich nichts miteinander gemein haben. Aber Pérez Galdós stellt den Zusammenhang her, der damals – nicht nur in Spanien – allgemein üblich war. Und dann fiebern wir buchstäblich mit, was sich denn aus der vielfachen Entfernung zwischen Fortunata und Jacinta, die beide Ehefrauen sind, ergeben mag. Und wie erschüttert sind wir, wenn sich Fortunata und Jacinta, beide eingeschlossen in ihre sozial definierten Möglichkeiten, tatsächlich einmal begegnen.

    Aber wir lernen nicht nur diese beiden Heldinnen lieben, sondern noch eine ganze Reihe weiterer skurriler und eigenwilliger Personen kennen. So etwa jemanden, der plötzlich und überraschend zum Politiker wird und von nun an in einer abgeklärten Pose mit den hergebrachtesten Allgemeinplätzen aufwartet, die sich von den Phrasen und vom Tonfall der Jetztzeit nicht unterscheiden. Wie sagt es Pérez Galdós: «Politische Moral gleicht einem Rock mit so vielen Flicken, daß man das ursprüngliche Tuch nicht mehr entdecken kann.» Oder einen Priester, der mit «abgestandenen Sprüchen aus den Büchern der Heiligen» versucht, Macht auszuüben und den Lebensweg von Menschen zu beeinflussen, so wie es ihm gefällt. Oder eine Geldverleiherin, die sich ihre dehnbaren moralischen Maßstäbe ohne Scham selbst zurecht zimmert. Ja, der Wunsch, Macht über andere Menschen zu haben, scheint ein mächtiges Agens zu sein.

    Besonders gut beobachtet sind die ehelichen Dialoge in den beiden unterschiedlichen ehelichen Kammern und die permanente intrusive Übergriffigkeit garstiger, älterer Frauen, die – ähnlich wie der oben erwähnte Priester – so oder so ihren Einfluß geltend machen wollen, koste es, was es wolle.

    Ach, welch' ein Kosmos, und welch' große Liebe zu den Menschen erfüllt Pérez Galdós! Ein Meisterwerk? Ja.



    Erstellt: 21. Juni 2008 – letzte Überarbeitung: 4. Juli 2008
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