BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Fred Licht: Villa Ginestra»
von Henriette Orheim
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«Was ich gerade geschrieben habe, ist ein falscher Anfang.
Vielleicht besteht mein Leben (das Leben eines jeden?)
im Grunde genau daraus. Aus lauter falschen Anfängen.»

«Ich frage mich, was meine letzten Worte sein werden.
Wie fändest du das: ‹Andererseits›?»

Als ich dieses Buch zum ersten Mal in der Hand hielt und die Namen des Autors – Fred Licht – und der Übersetzerin – Angela Praesent – las, mußte ich lachen, denn ich dachte, Hans Magnus Enzensberger hätte in der von ihm begründeten ‹Anderen Bibliothek› mal wieder etwas unter einem netten ‹nome de plume› veröffentlicht – und keiner, außer mir, merkt es. Nun ja, dem ist wohl nicht so. Schade eigentlich. Doch nun zu diesem ganz erstaunlichen Roman.

Zwischen den beiden Weltkriegen richtet die zu einer weit verzweigten Banken- und Gelddynastie gehörende und ‹Cousine Renée› genannte Heldin dieses Romans in ihrer Villa Ginestra in Florenz eine Freistatt, eine Zufluchtsstätte, ja, eine Art Arche Noah für Musik, Literatur, Philosophie und Kunst ein. Sie lädt ihr passende Personen ganz formlos ein, in ihrer Villa ihren Studien und Beschäftigungen nachzugehen, solange sie dies wünschen.

«Eine sorgsam ausgewählte Gruppe von auf der ganzen Welt verstreuten Freunden – Journalisten, Musiker, Literaturkritiker, Museumsdirektoren – stand mit Cousine Renée in Korrespondenz, und aus ihren Vorschlägen suchte sie die Kandidaten aus [...]. Nur Männer und Frauen, die bereits Werke von Bedeutung hervorgebracht hatten, jedoch augenblicklich aufgrund einer Krise gehemmt waren, gelangten auf die Liste.»

In dieses intensive kulturelle und intellektuelle Leben hinein gerät nun ein ebenfalls dieser Bankendynastie angehörender 14-jähriger Junge mit dem Namen Harry, dessen Eltern hoffen, daß er einmal das Erbe der allein stehenden Cousine Reneé antreten werde und so die von ihr angesammelten Gelder und Werte zurück in den Schoß der Bankenfamilie zurückführen könne. Harry, der diese Geschichte erzählt, und Cousine Reneé wissen beide um diese Absichten, dennoch lernen sie, sich zu mögen. Und so währen Harrys Besuche Jahr für Jahr immer länger, ja Harry wächst ganz unmerklich so in die Welt der Villa Ginestra hinein, daß er eines Tages auf Dauer dort leben wird.

Wir begleiten aber auch Harrys inneres Wachsen. Und eine Szene, in einem billigen Imbiß in New York, geht mir wohl nie mehr aus dem Sinn:

«Niemand wußte, wer ich war, keinen interessierte es, und ich war frei, aus mir das zu machen, was ich sein wollte. Ich war gerade noch unschuldig genug, um mir sicher zu sein, daß ich jemand war. Von der Ich-Hülse befreit zu sein, in die ich mich stets gefügt hatte, weil andere bestimmt hatten, so hätte ich zu sein, war eine Freude [...].»

Da haben wir also nun eine Heldin, Cousine Renée, und einen Helden, Harry. Es gibt aber noch einen dritten Helden in diesem Roman, Craig Perrin, der als Dauergast in der Villa Ginestra lebt. Und sowohl Craig Perrin als auch Cousine Renée erzählen in langen autobiographischen Einschüben über wichtige, kritische und prägende Ereignisse und Verstrickungen in ihrem Leben.

Der 2008 erschienene Roman ‹Villa Ginestra› des achtzigjährigen Fred Licht ist ein großer Wurf, aus drei Gründen. Zum einen werden wir immer wieder damit konfrontiert, daß unseren lauen, hergebrachten, oberflächlichen und undurchdachten sozial konstruierten Meinungen und Ansichten mit einem Mal so widersprochen wird, daß wir – gleichsam sprachlos geworden – uns nicht nur kaum wehren können, sondern daß es uns gar peinlich ist, dieser einen Ansicht einmal angehangen zu haben.

Zum anderen werden Menschen in diesem Roman nie einseitig geschildert. So wie Knut Hamsun in seinem ‹Psychologischen Realismus› immer die Untiefen in einer Person ausleuchtet (siehe etwa das Meisterwerk ‹Mysterien›), so zeigt uns auch Fred Licht, daß nicht nur das Scheitern, sondern auch das Unerklärliche, das Dunkle, ja, das Böse zur Natur des Menschen gehört. Hier offenbart sich ein ganz tiefer Pessimismus gegenüber dem Menschen in der Moderne.

Und der dritte Punkt, warum ich diesen Roman so überragend finde, und das ist der eigentliche Punkt, der mich dazu verleitete, diese kleine Buchgeschichte zu schreiben, ist die Einführung des Begriffs der ‹Mittelmäßigkeit›. Heute, in der Postpostmoderne, gibt es niemanden mehr, der von sich sagen würde, er sei mittelmäßig. Heute hat ja jeder ein wichtiges ‹Ich›, welches ihn dazu berechtigt, Lebensäußerungen zu tätigen und ein Aufmerksamkeitsmanagement zu betreiben – und damit anderen Leuten auf die Nerven zu gehen.

Ganz anders dagegen Harry. Gegen Ende des Romans wird er in Port Bou leben. Und nach seinem ersten Besuch in dieser kleinen Stadt an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, in dieser kleinen Stadt, die so viel über das Leid der Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg erzählen kann, stellt Harry lakonisch fest:

«Die Mittelmäßigkeit von Port Bou hatte allem Lauwarmen in mir behagt. Ich war noch nie an einem Ort gewesen, der meinem Charakter so völlig entsprochen hatte.»

Welch ein Geständnis! Welche Größe! Und wie unvermittelbar das heute erscheint! Ja.



Erstellt: 1. September 2008 – letzte Überarbeitung: 4. September 2008
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