BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß»
von nele
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«Es war ein Versagen der Worte, das ihn da quälte,
ein halbes Bewußtsein, daß die Worte
nur zufällige Ausflüchte für das Empfundene waren.»

1906 veröffentlicht Robert Musil seinen ersten Roman, damals ist er erst 26 Jahre jung und Student. Aber wie das? Was kann ein solch junger Mensch so Wesentliches zu schreiben und zu berichten haben? Dies fragen wir uns natürlich in einer Zeit, in der sich nahezu jeder veröffentlichen kann, mit oder ohne Biografie, mit oder ohne Gedanken, mit oder ohne unbedeutendes Phrasenherunterrasseln.

Musil besucht als Jugendlicher zwei Kadettenanstalten, denn er soll Offizier werden, schließlich bricht er jedoch diese Laufbahn ab und beginnt ein Ingenieurstudium an der Hochschule im heutigen Brno, an der sein Vater als Professor tätig ist. Mit 21 Jahren wird er Ingenieur, entschließt sich dann jedoch klugerweise zum Philosophiestudium, um sich anschließend der Schriftstellerei zu widmen. Und so handelt sein erster Roman – veröffentlicht hat er schon weit davor – von genau den Erlebnissen eines jungen Auszubildenden in einer jener Kadettenanstalten, in denen Musil selbst gelitten und gelebt hat.

Hier begegnen wir Musil als jugendlichem Törleß, der unter unendlichem Heimweh leidet und daher das Briefeschreiben an seine Eltern als einzigen Lichtblick empfindet, denn wenn er

«schrieb, fühlte er etwas Auszeichnendes, Exklusives in sich; wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben hob sich etwas in ihm aus dem Meere grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und gleichgültig umdrängte. Und wenn er untertags, bei den Spielen oder im Unterrichte, daran dachte, daß er abends seinen Brief schreiben werde, so war ihm, als trüge er an unsichtbarer Kette einen goldenen Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von wunderbaren Gärten öffnen werde.»

Und hier erleben wir den jugendlichen Törleß, dessen Erlebnisse in der Anstalt das Vehikel seiner Denkprozesse bilden. Denn er ist angewidert vom Denken und Verhalten anderer, und nahezu überrascht und schockiert über sich selbst.

Anderer? Ja, so lernen wir Basini kennen, ‹das Opfer›, das sich tragischerweise selbst zum Opfer machen lässt. Basini, der beim Diebstahl in Flagranti von den weiteren Hauptfiguren Beineberg und Reiting erwischt wird. Beide nutzen dieses Wissen für demütigende Machtspielchen, auch sexueller Art. Basini, der sich fast freiwillig unterordnet, der durch sein unterwürfiges Verhalten seine eigene Würde mißachtet und sich schließlich in all seiner Hilflosigkeit in nahezu erotischer und masochistischer Weise an Törleß klammert, wird für diesen zum Objekt seiner Fragen über die menschliche Seele, seiner eigenen Seele. Törleß allerdings, stellt sich nicht als Helfer heraus und ist von Basini eher angewidert als daß er ihm zur Seite stünde:

«Die moralische Minderwertigkeit, die sich an ihm herausstellte, und seine Dummheit wuchsen auf einem Stamm. Schlimmer noch: Denn wenn die Weltseele will, dass einer ihrer Teile erhalten bleibe, so spricht sie sich deutlicher aus.»

Es scheint wohl weniger wichtig zu sein, wie die Geschichte endet, als den Verlauf zu betrachten, den das Denken Törleß' nehmen wird. Eine Mischung aus Neugier, Lust, Macht und Ekel treibt ihn immer tiefer in den erpresserischen Komplott von Reiting und Beineberg gegen Basini. So ist Törleß der Beobachter, der Basini weder hilft noch in ähnlicher Weise quält wie es die beiden anderen tun, der nichts tut, außer sich selbst und andere zu analysieren, um zu einer Wahrheit zu gelangen, die höchstens und immerhin die Struktur seines Denkens und seiner Erfahrung nach Sinnlichkeit zu Tage treten lässt.

Aber Törleß denkt auch über den Sinn des Lernstoffes nach, der ihm in der Anstalt vermittelt werden soll:

«Man weiß am Abend, daß man wieder einen Tag gelebt hat, daß man so und so viel gelernt hat, man hat dem Stundenplan genügt, aber man ist dabei leer geblieben [...]»

Der Knoten, das Dilemma, durch das die Geschichte Leben gewinnt, wird nicht gelöst, kann nicht gelöst werden. Und auch dies beschreibt Musil vorzüglich mit einer Metapher über das Innenleben des Törleß:

«[Er] hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor unserem Geiste stand. Aber so oft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine unaufhörliche Division durchführen müßte, bei der immer wieder ein hartnäckiger Rest heraussprang, oder als ob er fiebernde Finger wundbemühte, um einen endlosen Knoten zu lösen.»

Basini wird gehen müssen, Beineberg und Reiting werden gefaßt, Törleß wird sich rechtfertigen, und er tut das auf eine Weise, die – auch heute – wahrscheinlich keiner verstehen wird. Und er tut es, nur um wieder einen Gedanken weiter zu sein:

«So wie ich fühle, daß ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in mir beim Anblick der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen.»

Liebe Leser, haben Sie sich schon einmal so erlebt?



Erstellt: 21. Juni 2009 – letzte Überarbeitung: 1. September 2009
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