BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Jonathan Franzen: Anleitung zum Alleinsein»
von Henriette Orheim
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«Jedes Mal, wenn man mitbekommt,
dass ein Freund aufhört, Bücher zu lesen,
jedes Mal, wenn man liest,
dass wieder ein fröhlicher junger Autor
Fernsehen in Buchform macht,
ist das eine Qual.»
(Jonathan Franzen)

«Menschen ohne Hoffnung schreiben nicht nur keine Romane,
sondern, und das trifft die Sache genauer, sie lesen auch keine.
Nichts nehmen sie länger in Augenschein,
denn dazu fehlt ihnen der Mut.»
(Flannery O'Connor)

Abgesehen von einigen überaus zutreffenden Analysen der Zustände in bestimmten sozialen Systemen, denkt Jonathan Franzen in seiner 2002 erschienenen Essay-Sammlung ‹How to be alone› (‹Anleitung zum Alleinsein›. Reinbek: Rowohlt) nur über ein Thema nach: Wie lässt sich ein vielschichtiger, tiefer Roman schreiben, wenn diejenigen, für die der Roman gedacht ist, immer weniger daran interessiert sind, einen vielschichtigen, tiefen Roman zu lesen? Das Fernsehen als Selbstreferenzunterbrecher, als lärmende, unentwegt ‹zerstreuende› und nachhaltig affirmative Massenkultur, die ‹elektronische Fragmentierung des öffentlichen Diskurses› und die ‹Tyrannei› des vermeintlich Faktischen haben, so Jonathan Franzen, dem Roman als Sozialreportage den Garaus gemacht›:

«Der Autor von Romanen hat seinen Lesern immer mehr zu sagen, während sie immer weniger Zeit zum Lesen haben: Woher nimmt man die Kraft, auf eine Kulturkrise einzuwirken, wo doch die Krise gerade in der Unmöglichkeit besteht, auf die Kultur einzuwirken?»

Franzen sieht einen substantiellen, vielschichtigen, tiefen Roman als einen Raum,

«in dem für den gemeinen Bürger Hoffnung besteht, die ethischen, philosophischen und soziopolitischen Dimensionen des Lebens, die überall sonst so vereinfachend dargestellt werden, in den Griff zu kriegen.»

Um diese These zu beleuchten, zieht Franzen eine ganze Reihe von Autoren und Autorinnen heran, die auf verschiedene Art und Weise und aus unterschiedlichen Disziplinen stammend der Frage nachgehen, was mit unsrer Kultur und vor allem unserer Identität geschieht, wenn immer weniger gelesen wird. Don DeLillo etwa sagt:

«Wenn ernsthaftes Lesen gegen null geht, heißt das wahrscheinlich, dass das, worüber wir reden, wenn wir das Wort ‹Identität› benutzen, am Ende ist.»

Darüber läßt sich nachdenken. Kann es ohne eine im Mündlichen verwurzelte Lese- und Schreibfähigkeit ein ‹Ich› geben? Gute Frage, angesichts der vielen sekundären Analphabeten und Postanalphabeten, die vielleicht noch etwas lesen, es aber nicht verstehen können. Die nur noch Bildern und vor allem bewegten Bildern vertrauen. Und die endlos in hergebrachten Sprachfiguren über vermeintlich Erlebtes schwatzen können. Wer das Geschwätz in angesagten Talkshows erträgt, ist bestimmt kein ‹ernsthafter› Leser mehr.

Auch an den Universitäten ändert sich vieles in atemberaubender Weise. Franzen sagt:

«Eine recht gute Definition von Universität ist die, dass sie ein Ort ist, an dem man Leute dazu bringt, schwierige Bücher zu lesen.»

Nur, wer läßt sich heute noch dazu bringen und liest freiwillig schwierige Bücher? Und ‹diskutiert› im Seminar mit anderen darüber? Gott, so eine Zeitverschwendung! Hier sind ‹Module› abzuarbeiten, in der aller kürzesten Zeit. Mittlerweile rühmen sich selbst Bachelor-Absolventen, daß sie ihre ‹Multiple-Choice-Prüfungen› überaus erfolgreich absolvieren konnten, ohne ein einziges Buch gelesen zu haben. Ganz im Ernst, da ist ein neuer postmoderner Stolz, der sich aus der Abgrenzung der Nicht-Lesenden von den Lesenden nährt. Denn die Nicht-Lesenden, spüren, daß das Lesen an sich – als elitärer und ausschließender Akt – immer noch eine Art Werturteil über sie selbst ist:

«Lesen ist ein Urteil. Es brandmarkt die Begriffe und Prioritäten, die das gewöhnliche Leben bestimmen, als ungenügend.»

Das ist störend und verstörend. Also müssen sich die Nicht-Lesenden wehren und erklären, daß sie stolz auf ihren Post-Analphabetismus sind. Und dann müssen sie sich lustig machen über die so rückständigen und uncoolen Noch-Lesenden. Ja, so ungefähr wird das weiter gehen.

Jonathan Franzen zieht noch eine Fülle weiterer Argumente heran, um die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines ernsthaften Lesens (und Schreibens) zu betonen. Es ist wirklich sehr spannend und fordernd, mit ihm darüber nachzudenken, was geschehen mag, wenn wir in naher Zukunft gegenüber jungen Menschen gar nicht mehr die Erwartung hegen können, daß diese in der Lage sind, einen komplexen Text zu lesen und vor allem zu verstehen.

«Schriftsteller bewahren eine Tradition der präzisen, ausdrucksstarken Sprache, die Kunst, durch Oberflächen hindurch in Inneres zu blicken, vielleicht die Einsicht, daß private Erfahrung und öffentlicher Kontext sich unterscheiden und doch durchdringen, vielleicht Mysterien, vielleicht Gewohnheiten. Vor allem aber bewahren sie eine Gemeinschaft von Lesenden und Schreibenden, und die Mitglieder dieser Gemeinschaft erkennen einander daran, daß ihnen nichts auf der Welt als einfach erscheint.»

Und das ‹Erste, was das Lesen bietet, ist eine Anleitung zum Alleinsein.› Nur, wer kann in der Postpostmoderne allein sein? Mit einem Buch? Ach so, nach jeweils fünf Seiten kann ich ja auf ‹Twitter› oder ‹Facebook› allen meinen ‹Freunden› mitteilen, daß ich gerade lese und was ich lese, und vor allem, was ich beim Lesen fühle.



Kommentare:


Liebe Henriette,

das ist ja schön, dass Du Dich Jonathan Franzen widmest. Ich finde auch, er ist einer der ganz wenigen populären Autoren, die Respekt verdienen. Du weisst, das er ein Freund (Freund, wie in: Freund) von David Foster Wallace war? Zwei Passagen aus seinen Bemerkungen anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten nach seinem Tod passen, wie ich meine, sehr schön zu Deinem Text:

«Dave liebte Details um ihrer selbst willen, aber Details waren auch ein Ventil für die Liebe, die sich in seinem Herzen staute: ein Weg mit einem anderen Menschen auf einer relativ gefahrlosen Mitte in Kontakt zu treten. Was ungefähr die Beschreibung von Literatur war, die er und ich Anfang der neunziger Jahre in unseren Gesprächen und Briefen entwickelten.»

Schreiben aus Liebe und aus Angst, sonst ist es kein Schreiben. Und dann, auch wenn es sehr weh tut, die schließenden Worte von Jonathan Franzen an David Foster Wallace:

«Er war in den Schacht der unendlichen Traurigkeit hinabgestiegen, von Geschichten nicht mehr zu erreichen, und er hat es nicht mehr rausgeschafft. Aber er hatte eine schöne, sehnsuchtsvolle Unschuld, und er hat es versucht.»

Mit mehr Würde können wir einem Menschen nicht Lebewohl sagen. Ja, Jonathan Franzen gehört – so überraschend – zu den Großen.

Alles Liebe,

Betty



Erstellt: 13. Februar 2011 – letzte Überarbeitung: 15. Februar 2011
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