BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Esther Kinsky: Banatsko»
von Henriette Orheim
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«Warum machst Du solche Bilder?, fragte er.
Ich betrachte die Sprache der Dinge.»

«Es gibt keinen Weg zurück aus dem Kennen ins Nichtkennen.
Sehen, Erkennen, Erinnern ist das Verschlingen von Welt
ins eigene Leben hinein.»
(Esther Kinsky)

Ist das ein Roman?» [1] Esther Kinsky (2011): Banatsko. Roman. Berlin: Matthes & Seitz.
Hm, nein.
Ist es eine Erzählung?
Eher nicht.
Eine Novelle?
Bestimmt nicht.
Ja, was dann? Ein Krimi?
Bitte!
Eine Reisebeschreibung?
Hm, schon eher, aber nicht im klassischen Sinn. In diesem Buch geht es nicht darum, etwas erlebt, sondern etwas betrachtet zu haben. Es gibt keine großen Ereignisse, keine spektaklistischen Zuspitzungen, sondern, statt dessen, Impressionen, wörtlich betrachtet also: Eindrücke.
Ja – und jetzt?
Lesen!

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In der Musik erlebe ich gelegentlich etwas, was mir auch bei diesem Buch widerfahren ist: Ich höre eine CD zum ersten Mal – und bin ratlos. Ich habe viel gehört, aber nichts verstanden. Beim zweiten Hören dann ...

Genau so bei ‹Banatsko›. Ich las das Buch und war ratlos. Ich hatte nichts verstanden, es hatte mich nicht getroffen. Dann, einige Wochen später, las ich es erneut – und sah, welches Kunstwerk Esther Kinsky hier gebaut hat. Der zweite Blick.

Da reist eine Frau in ein fremdes Land, entscheidet sich, in einem Ort mit dem schönen Namen ‹Battonya› wohnen zu bleiben, und berichtet ganz unaufgeregt über ihre Begegnungen mit Menschen, über Gesehenes, Gehörtes, Beobachtetes. Es tauchen zwar immer wieder einige Personen oder auch andere Orte auf, die sie besucht, aber es gibt keine eigentliche Handlung. Statt dessen: Sprache. Diese wunderbare Sprache. Kann es lyrische Prosa geben? Oh ja:

«Ich wollte vor niemanden treten und von meinem früheren Land berichten. Ich spürte, wie die Grenzen am Herzen schliffen und feilten. Wie sich die blassen Linien, die nur auf dem Papier und nicht auf der Erde zu sehen waren, um die Gedanken legten. Wie das fahle, gezeichnete Herbstland unter den Schritten Furchen und Auswerfungen ins Spiel brachte, die auf ihre Dies- oder Jenseitigkeit befragt werden sollten. Gleichzeitig erschien dem Blick über das in seiner weitausholenden Gleichförmigkeit so unbeugsame, in seiner Flachheit so widersätzige Land jede solche Hüben- und Drübenerwägung maßlos und im bloßen Namen des Besitzens herbeigezerrt. Wer wollte hier entscheiden, was wohin gehörte?»

Ester Kinsky schaut aus dem Fenster ihres Hauses in ‹Battonya›, oder sie sitzt vor ihrer Tür – und sieht. Sie kann sehen, sie läßt sich beeindrucken, und sie kann ihre Eindrücke wiedergeben in einer poetischen Sprache, die ihresgleichen sucht. Wo finden wir das heute? Hier:

«Der Horizont lädt ein zum steten Absuchen der Ferne in Erwartung einer unbekannten Veränderung. Das Auge sieht die Sonnenblumen erblühen, verwelken und schwarz werden, starrt über ihr gelbes, braunes, schwarzes Wogen hinweg, dann über den furchigen Sumpf, den sie hinterlassen, der im Winter gefriert und sich mit einer unebenen Schneedecke überzieht. Es verfolgt den Flug der Vögel am Himmel und die fransigen Schatten der Krähenschwärme, die dicht über den Äckern und Feldern schweifen, und späht unterdessen immer nach der Möwe, die uns die Botschaft vom Näherrücken des Meeres bringen könnte. Vom Warten verwildert streift es zwischen den Dingen umher, des Betrachtens so müde, dass der Mund die Namen der Dinge vergisst und auf der Suche nach ihnen offen in die Nächte schnappt.»

Dieses Buch benötigt keine anpreisenden Worte. Es kann für sich selbst sprechen. Eigentlich ist es ein Gedicht.



Erstellt: 09. April 2012 – letzte Überarbeitung: 12. April 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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