BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Thomas Szasz: The Myth of Mental Illness»
von Timotheus Fleck
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Einführung

Thomas Szasz wurde in den sechziger Jahren als Psychiatriekritiker bekannt. Er kritisierte die Anwendung medizinischer Methoden auf Probleme des menschlichen Lebens. In einem neuen Vorwort erzählt Thomas Szasz wie er innerhalb von zehn Jahre nach Erscheinen von „The Myth of Mental Illness“ zur Unperson in psychiatrischen Fachkreisen wurde und wählt für die dann erfahrene Behandlung das deutsche Wort „Totschweigetaktik“. Die Neuauflage seines Buches zum 50. Jubiläum [1] Thomas S. Szasz (2010): The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory Of Personal Conduct. 50th Anniversary Edition With a New Preface and Two Bonus Essays. London, New York: Harper Perennial.
Und: Thomas S. Szasz (2013): Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Heidelberg: Carl Auer.
wird deshalb in psychiatrischen Kreisen nur wenige Leser finden.

50 Jahre nach seinem Erscheinen erhält das Buch jedoch neue Aktualität in einem anderen Fach: der Psychologie. Sie arbeitet zunehmend mit bio-psycho-sozialen Modellen, durch die mehr und mehr biologische Vorstellungen und Methoden auch in Psychologie und Psychotherapie gängig werden. Kompetenznetzwerke für Depressionen werden gegründet, um jedem Depressiven zusätzlich zu Gesprächen die richtige pharmakologische Behandlung zu ermöglichen. Es werden aus der Psychotherapieforschung Rufe laut, Psychotherapeuten nur noch nach von Ärzten durchgeführter Diagnostik tätig werden zu lassen. Klienten in Psychotherapie werden Gehirnscans „gesunder“ und „depressiver“ Gehirne vorgelegt, die ihnen helfen sollen, sich besser zu verstehen.

Damit ist die Zeit gekommen, dass auch die Psychologie von der Szaszschen Kritik getroffen wird. Im folgenden soll, nach Argumenten geordnet, die Szaszsche Position dargestellt werden. Im Kontrast wird zu jedem dieser Argumente der aktuelle Stand des psychologischen Diskurses skizziert.


Das sprachphilosophische Argument

Beginnen wir mit einem Zitat, das in der für Szasz typischen, pointierten Art einen seiner zentralen Gedanken enthält.
Man kann von der Bauchspeicheldrüse sagen, sie habe eine natürliche Funktion. Doch was ist die natürliche Funktion einer Person? Diese Fragen zu stellen, heißt nach der Bedeutung des Lebens zu fragen. Es ist eine religiös-philosophische, keine medizinisch-wissenschaftliche Frage. Menschen verschiedenen Glaubens haben einander so ähnliche Nieren, dass man sie in den Körper eines anderen verpflanzen kann, ohne dessen Identität zu verändern. Aber ihr Glauben und ihre Gewohnheiten sind so grundlegend verschieden, dass sie es oft schwierig oder sogar unmöglich finden, miteinander zu leben. (xxiii)
Szasz weist damit auf die Kluft zwischen einer medizinischen Beschreibung des Körpers und einer Perspektive auf das menschliche Leben hin. Diese Unterscheidung ist keine Selbstverständlichkeit. Die Neurowissenschaften nehmen großen gesellschaftlichen Einfluss. Psychotherapie findet neuerdings Gefallen an einer Selbstbeschreibung als „Neuropsychotherapie“ (Klaus Grawe), Willensfreiheit ist zum Problem geworden (Gerhard Roth) und an einigen amerikanischen Instituten ist Psychologie schon in das „Department of Cognitive Science and Neuroscience“ umbenannt worden. Viele Vertreter der modernen Psychologie sehen dies als Fortschritt, als Ausdruck der gedeihenden Zusammenarbeit mit einer Nachbardisziplin zum gegenseitigen Vorteil. Szasz weist auf die Nachteile einer solchen Annäherung hin.

Szasz hat nichts gegen Interdisziplinarität. Er beansprucht für seine Position einen methodischen Pluralismus und nutzt Arbeiten aus den verschiedensten Disziplinen, u.a. Philosophie, Linguistik, Soziologie, Psychologie und Anthropologie. Das Verhältnis von Körper und Geist betrachtet er dabei von einem sprachphilosophischen Standpunkt. Er beschäftigt sich nicht mit den Interaktionsmodellen selbst, sondern mit der Art und Weise der Beschreibung von Körper und Geist. Dabei wendet er sich nicht gegen die Sprache der Medizin an sich. Die von Szasz befürchteten Nachteile ergeben sich aus der Übertragung dieser Sprache auf den Bereich des Psychischen. Die Sprache der Medizin eignet sich lt. Szasz nämlich nicht zur Beschreibung persönlicher Probleme. In der Medizin gibt es, so Szasz, eine relativ neutrale Beobachtungssprache; sie kann beschreiben, ohne werten zu müssen. Nach objektiver Analyse ist eine Diagnose möglich, die dann einen Weg zur Heilung vorzeichnet. Dies ist für Szasz für Probleme des menschlichen Lebens vollkommen anders.

Dieser Punkt ist grundlegend für Szasz' Denken: In der Medizin, so Szasz, sei Krankheit definiert als die pathologische Veränderung von Gewebe, Zellen und Organen. Er trifft damit keine Aussagen über die tatsächliche Ursache körperlicher Krankheit, sondern weist auf die in der Medizin geltende Definition hin. Wer nun auch im Bereich des Psychischen von „Krankheit“ sprechen wolle, komme nicht umhin, sich auf diese paradigmatische Krankheitsdefinition zu beziehen. Weil aber im Zusammenhang mit Persönlichkeit oder Psyche nicht sinnvoll von Zellen oder Organen die Rede sein könne, sei die Übertragung des Krankheitsbegriffes vom organischen in den psychologischen Kontext unberechtigt. Um diesen Punkt mit Kenneth Gergen [2] Gergen, K. (1994): Realities and Relationships. Soundings in Social Construction. Cambridge: Harvard University Press. Seite 145., der von Szasz in seiner eigenen Diagnostikkritik beeinflusst ist, zu verdeutlichen: Anders als bei Zellen oder Organen ist es sinnlos, im Zusammenhang mit der Persönlichkeit oder dem, was wir „psychisch“ nennen, von Farbe, Größe, Form und Gewicht zu sprechen – es sei denn metaphorisch. Für Szasz ist deswegen der Begriff der psychischen Krankheit nur eine Metapher (xii), allerdings eine sehr wirkmächtige. Sie hat eine Definitionshoheit der Neurowissenschaften in Fragen psychischen Leidens ermöglicht, das infolgedessen als körperliches Geschehen angesehen wird. So kann Hans-Ullrich Wittchen – Professor für Klinische Psychologie und ICD-10-Ko-Autor – heute ohne Erläuterungsbedarf in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift feststellen: „Psychische Störungen […] betreffen das weitaus komplexeste Organ, das wir besitzen, nämlich das Gehirn. Und wieso sollte ausgerechnet dieses komplizierte Organ mit seinen vielfältigen Funktionen gesünder sein als der Rest des Körpers?“ (Psychologie Heute, 12/2012. Seite 69). Für Szasz liegt der Ursprung dieser immer wieder zu findenden Auffassung in einer einseitigen Diät von Beispielen, die man passend zur medizinischen Krankheitsmetapher auswählt. Nach dem Muster von stark physiologisch (mit-)geprägten Störungen wie Paresen oder Psychosen nach Intoxikation werde auf weitere Verhaltensweisen geschlossen, die daraufhin ebenfalls „psychische Krankheit“ genannt werden.
Sind in der modernen Medizin Krankheiten Entdeckungen, sind sie in der modernen Psychiatrie Erfindungen. Während sich Paresis als Krankheit erwies, wurde Hysterie dazu erklärt. (12)
Auf diese Weise lässt sich der Anwendungsbereich psychiatrischen Vokabulars beliebig ausweiten. Das hat reale Folgen für den Umgang mit den als „psychisch krank“ bezeichneten Verhaltensweisen. So gilt z.B. auch Depression inzwischen als Störung, die sich bestens mit Psychopharmaka behandeln lässt. [3] In jüngerer Zeit sind Studien erschienen, die die Wirksamkeit von Psychopharmaka bei Depressionen insbesondere bei leichten und mittelschweren Fällen in Frage stellen. Ein dazu befragter Psychiater äußerte im Deutschlandfunk, man dürfe aber diese Nichtwirksamkeitsbelege nicht verbreiten, weil das den Betroffenen „die letzte Hoffnung“ nehme. Gerade bei schweren Depressionen seien Psychopharmaka immer noch die erste Wahl. Was bei leichten und mittleren Depressionen nicht hilft, hilft bei schweren Depressionen... und um das medizinische Modell zu retten, verabschiedet man die ihm eigene Logik. Und statt nach Alternativen zur Verbesserung der Lage von „Depressiven“ zu suchen, verabreicht man als Mittel der letzten Wahl nachweislich wirkungslose Präparate. Den häufig vorgebrachten Einwand, Verhaltensauffälligkeiten ließen sich auf Erkrankungen des Gehirns zurückführen, kontert Szasz so:
Der Arzt, der entdeckt, dass eine bestimmte Person, die als psychisch krank diagnostiziert wurde, an einem Hirntumor leidet, entdeckt, dass der Patient fehldiagnostiziert wurde. Der Patient hatte nie eine psychische Krankheit; er hatte – und hat – eine körperliche Krankheit. (xiii)
Im Begriff der „psychischen Krankheiten“ kommen zwei Sprachformen zusammen, die für Szasz nicht zusammengehören: die medizinische Sprache, die sich vorwiegend mit kausaler Verursachung beschäftigt, und der Diskurs über den Menschen, der, jedenfalls so wie ihn Szasz vertritt, durch die Idee des freien Willens geprägt ist:
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen physikalischer Verursachung und menschlicher Volition: das eine ist eine Darstellung wiederkehrender Regelmäßigkeiten; das andere ist eine Darstellung eines Akteurs, der etwas geschehen lässt. Um ein Beispiel zu geben: Magengeschwüre "nötigen" Patienten nicht im selben Sinne Schmerzen zu haben, in dem Verleiher ihre Schuldner davon überzeugen, ihre Schulden zu bezahlen. (82)
Oder kurz und knapp:
Krankheiten des Körpers haben Ursachen, Menschen haben Gründe.
Der Begriff „psychogene organische Symptome“ ist für Szasz deshalb genauso ein Missbrauch linguistischer Formen, wie die ganze Rede von „psychischen Krankheiten“. Die moderne akademische Psychologie lässt sich von dieser Kritik nicht beirren. Sie erforscht oftmals ungeklärte Begriffe und nimmt an, jedem diagnostischen Label lägen reale Prozesse und Substanzen zugrunde. Nach wie vor gilt Wittgensteins Urteil:
Das Bestehen der experimentellen Methode läßt uns glauben, wir hätten das Mittel, die Probleme, die uns beunruhigen, loszuwerden; obgleich Problem und Methode windschief aneinander vorbeilaufen. [4] Wittgenstein, L. (1984). Werkausgabe, Band 1: Tractatus-Logico-Philosophicus, Tagebücher, 1914-1916, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Seite 580.

Das Moralische Argument

Szasz geht es nicht allein um die philosophisch-logische Richtigkeit der Sprache der Psychiatrie. Für Szasz hat die sprachliche Verfasstheit psychischer Phänomene reale Folgen für das menschliche Leben. Er verfolgt mit seinen Schriften ein klares Anliegen:
Ich will den Anwendungsbereich voluntaristischer Erklärung maximal erweitern - mit anderen Worten, Freiheit, Entscheidung und Verantwortlichkeit in das Vokabular der Psychiatrie zurück führen. (6)
Mit einem voluntaristisch bereicherten Vokabular erweitern sich für Szasz auch die Handlungsmöglichkeiten der Menschen, die damit umgehen. Verstehen sie sich als selbstbestimmte Individuen, können sie mit sich selbst etwas anfangen, können sich bspw. entscheiden, welches Verhalten sie zeigen wollen.

Am Beispiel von Sigmund Freud macht Szasz deutlich, wie jede Form psychologischer Beschreibung moralische Wertungen mit sich bringt.
Freud hat die kindliche Sexualität nicht nur „entdeckt“, er war auch ein Befürworter der sexuellen Aufklärung von Kindern; er hat die Auswirkungen sexueller Verführung auf Kinder nicht nur untersucht, er war auch strikt dagegen; er hat nicht nur über die Natur der Homosexualität spekuliert, er hat sie auch als „Perversion“ verurteilt. (257)
Und auch Szasz' eigene Disziplin, die Medizin, vertritt mit ihrem psychiatrischen Zweig eine bestimmte Position (102). Durch die Orientierung an der Physik und an den dort gängigen Kausalerklärungen ist es diejenige Position, die Szasz wohl am meisten verabscheut: die deterministische. Menschliches Handeln soll demnach Produkt physiologischer und psychologischer Gesetzmäßigkeiten sein. Die Psychiatrie proklamiert diesen Determinismus aber nicht offen, sondern verbreitet ihn implizit in Form von Beschreibungen psychischer Krankheiten mittels der Nomenklatur der Psychiatrie, heute zusammengefasst in den Diagnosekatalogen ICD und DSM. Darin sieht Szasz den eigentlichen Skandal der Psychiatrisierung der Gesellschaft: Menschen als „psychisch krank“ zu beschreiben, nimmt ihnen Freiheit, verringert ihre Entscheidungsspielräume und enthebt sie der Verantwortung.

Sind psychiatrische und psychopathologische Begriffe einmal geläufig, wirken sie wie selbsterfüllende Prophezeiungen. Mit ihrer Hilfe stellen Psychotherapeuten und Patienten Beobachtungen an, die die von der Psychiatrie gelieferten Begriffe zu belegen scheinen. Trauer, Angst und Sorgen werden zu „Depressionen“, exaltiertes Verhalten und psychosomatische Symptome sind „Hysterie“, Selbstverletzungen, Stimmungschwankungen und Beziehungsschwierigkeiten deuten auf eine „Borderlinestörung“ hin. Der entscheidende Schritt ist damit gemacht: Behandler und Behandelte beginnen psychische Krankheiten zu „sehen“ und die Wissenschaft kann beginnen sie zu erforschen. Szasz sieht dadurch das Verhältnis zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem also im Bereich des Psychischen in sein Gegenteil verkehrt. Die Bezeichnung selbst schafft erst das Phänomen, das sie bezeichnet.

Schon immer hat die Gesellschaft bestimmtes Verhalten gewünscht, anderes verurteilt. Und es wurde immer auch gelitten. Es ist jedoch eine relativ neue Entwicklung, Delinquenten zu Psychopathen und Leidende zu psychisch Kranken zu erklären. Für Szasz ist das ein Kulturbruch:
Wir haben die religiös-humanistische Auffassung über die tragische Natur allen Lebens durch eine moderne, entmenschlichte und pseudomedizinische Sicht ersetzt. (xiv)
Wir tauschen eine theologisches gegen ein therapeutisches Weltbild (xvii). Die Idee des fehlbaren Menschen gilt als veraltet; Menschen leiden und tun Böses, weil sie psychisch krank sind (xvi). Therapie wird in diesem Rahmen
ein Mittel zur Kleidung sozialer und moralischer Probleme in das Gewand persönlicher Konflikte (8)
und damit – frei nach Karl Kraus – zur Krankheit für deren Heilung sie sich hält.
Heutzutage verleugnen wir moralische, persönliche, politische und soziale Konflikte, indem wir vorgeben, sie seien psychiatrische Probleme: kurzum, indem wir das medizinische Spiel spielen. (182)
Statt befreiend zu wirken, dient ein System psychopathologischer Klassifikationen vor allem der Ablenkung. [5] So forderte bspw. der Republikaner Jason Chaffetz nach dem Massaker an der Sandy Hook-Schule, statt neuer Waffengesetze solle zunächst die “mental health question” diskutiert werden. Man müsse den Zusammenhang zwischen tödlichen Waffen und geistiger Gesundheit untersuchen. In der New York Times befand ein Kommentator, jemand, der in eine Schule gehe, um kleine Kinder zu erschießen, sei per Definition psychisch krank. Menschen durch Erfindung von Krankheiten von der Veränderung ihrer Lebensumstände abzuhalten, ist für Szasz unmoralisch. Er zieht eine wenig schmeichelhafte Parallele von Jean Martin Charcots ersten diagnostischen Kategorisierungen zur Erfindung eines anderen französischen Arztes: der Guillotine.
Seien sie je nach Standpunkt auch echte Errungenschaften, will ich dennoch daran festhalten, Guillotins und Charcots Beiträge nicht als der Befreiung dienlich, sondern als Mittel der Betäubung und Ruhigstellung anzusehen. (24)
Moralische Argumente wie diese werden von Psychiatrie und Klinischer Psychologie nicht mehr vorgebracht. Für sie ist sozial, was Heilung schafft, ohne zu reflektieren, was Heilung in diesem Zusammenhang bedeuten soll. Wo Szasz offen Position bezieht, ziehen sie sich auf objektiven, „neutralen“ Grund zurück. Ein Austausch von Argumenten über die so entstehende Distanz hinweg ist deshalb kaum möglich.


Das emanzipatorische Argument

Die therapeutische Sichtweise hat Vorteile für den gesellschaftlichen Umgang. Gilt der Leidende als krank, so kann und sollte ihm geholfen werden; gilt der Täter als mental gestört, wird er statt Strafe evtl. therapeutische Hilfe erhalten. Szasz vergleicht soziales Geschehen mit Spielen. Um gesellschaftlichen Erfolg zu haben, muss man sie möglichst gut beherrschen. Das „therapeutische Spiel“ im psychiatrischen Sinne wird von Therapeut und Patient gespielt. Die eigenen Wertkonflikte brauchen darin vom Patienten weder erkannt, noch benannt oder bearbeitet werden. Abweichendes Verhalten muss nicht gerechtfertigt werden, schließlich gilt es als krankheitsbedingt. Mit der Übernahme der Krankenrolle vertraut er auf einen wundergleichen Erfolg seiner Therapie:
Der Patient wird einem oft auf die durchsichtigste Weise folgendes mitteilen: „Wenn ich nicht erkrankt wäre, dann könnte ich...“ und was dann folgt, ist eine wirklich grandiose Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. (221)
Szasz ist vor allem Voluntarist; er glaubt an die Möglichkeiten, die Menschen sich schaffen, wenn sie sich auf eine Weise beschreiben, die ihnen Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Die Verwendung psychiatrischen Vokabulars verleitet Menschen dagegen dazu, sich selbst Handlungsmöglichkeiten zu nehmen. Oft fixieren sie dadurch just jene Gegebenheiten, die sich möglicherweise verändern ließen.
Im Großen und Ganzen begeben sich diese Personen in die Rolle des Hilflosen, des Hoffnungslosen, des Schwachen und oft des körperlich Kranken – wo sich doch ihre tatsächliche Rolle eher der Frustration, dem Unglück und der Verwirrung geschuldet ist, die aus zwischenmenschlichen, sozialen und ethischen Konflikten herrührt. (246)
Szasz erläutert dies ausführlich am Beispiel der Hysterie – bezeichnenderweise ein Krankheitskonzept, das inzwischen von der modernen Psychiatrie wieder ausgemustert wurde.
Wenn die Diagnose die Einschränkungen des Hysterikers auch nicht beheben konnte, so machte sie es doch einfacher für ihn "krank" zu sein. Wie so vieles nur halb Verstandene, kann solcherart Erleichterung jedoch gefährlich sein. Sie macht es sowohl dem Leidendem als auch dem Helfenden allzu leicht, die Situation fortzuschreiben und sich mit einem nach wie vor höchst unbefriedigendem Status Quo zufrieden zu geben. (23)
Ein therapeutisches Spiel, das mit psychiatrischen Diagnosen gespielt wird, steht demnach der Veränderung entgegen. Es bringt Patienten eher dazu, sich in die Krankheit zu fügen. Es verhindert Aktivität und führt zu Apathie. Dieses Versagen wird zumeist den Patienten angelastet. Auf Seiten des Therapeuten geht die angebotene Unterstützung Hand in Hand mit Pathologisierung. Das zeigt sich heute etwa am Zwang zur Diagnosestellung als Voraussetzung für die Bewilligung einer Psychotherapie durch die Krankenkassen. Implizit wird die Unterwerfung des Kranken unter das „Programm“ des Behandelnden erwartet.
Jedoch, im Allgemeinen unternehmen sie [die Patienten] nicht die „geeigneten“ Schritte, um gesund zu werden. In der Tat unternehmen sie üblicherweise überhaupt keine Schritte dieser Art und versuchen stattdessen, auf diejenige Art krank gesehen zu werden, in der sie es wollen, oder sich selbst als krank sehen. […] Im Falle von Depressionen bietet der Klient eine dramatisierte Version von „Ich bin unglücklich“ an. (197)
Das medizinische Spiel geht für Szasz immer mit einer gewissen Verachtung der zu Behandelnden einher. So dient das Spiel letztlich keinem der beiden unmittelbar Beteiligten: Der Hilfesuchende erhält Hilfsangebote, die seine – nach Szasz – eigentlichen Probleme nicht berühren und der Helfende sieht seine Therapiemethoden abgelehnt und wirkungslos, was zu beständiger Frustration führt. Den Sieg des therapeutischen Spieles trägt allein die Psychiatrie als Disziplin davon: Sie wird zur Autorität in Fragen des menschlichen Lebens, ihre Dienstleistungen gelten als unverzichtbar. So kritisiert Szasz weniger die Therapeuten und Klienten selbst, als vielmehr die Tatsache, dass sie ein für die zu lösenden Probleme ungeeignetes Spiel spielen.

Die Psychotherapie nach psychiatrischem Modell untergräbt die Veränderungsarbeit. Durch den Versuch, eine scheinbare psychische Krankheit zu heilen, blockiert sie diejenigen Prozesse, die nötig wären, um z.B. soziale Probleme zu lösen und persönliche Ziele zu erreichen.


Das pragmatische Argument

Den Therapeuten ermöglicht die therapeutische Arbeit, die schnell ein Spiel ohne Ende werden kann, Prestige und gesichertes Einkommen. Es stellt sich aber die Frage, wieso die Klienten sich ebenfalls auf diese Art von Spiel einlassen, bei dem aus Menschen mit Problemen „Patienten“ werden.

Szasz geht davon aus, dass Menschen sich freiwillig dem therapeutischen Spiel unterwerfen, weil dadurch Ziele greifbar werden, die sich auf direkte Art und Weise nicht erreichen lassen. Dem gesellschaftlichen Klima der fünfziger Jahre ist dieser illustrierende Vergleich geschuldet:
Kinder und Frauen können sich oft dort mit Tränen durchsetzen, wo Worte auf taube Ohren fallen - genauso wie Patienten mit ihren Symptomen. (118)
Bei Hysterikern sieht Szasz einen Wechsel vom direkten sprachlichen Ausdruck hin zur Körpersprache. Ihre psychosomatischen Symptome sind also sprachliche Mittel, die sie in einer Umgebung erworben haben, die ihnen keine andere Möglichkeiten zur Wahrung ihrer Interessen ließ. Sie sind Eintrittskarten in das Sprachspiel „Therapie“.
Um solches Verhalten zu verstehen, müssen wir Begriffe wie Lernen und Bedeutung gebrauchen. Entsprechend können wir schließen, dass Französisch sprechen das Ergebnis eines Lebens unter Menschen ist, die ebenfalls Französisch sprechen. Daraus folgt auch, dass es sinnlos ist, nach Ursachen zu fragen, wenn Hysterie eher eine Sprache als eine Krankheit ist. Genau wie bei Sprachen werden wir nur fragen können, wie Hysterie gelernt wurde und was sie bedeutet. Weiterhin können wir nicht sinnvoll über die „Behandlung“ von Hysterie sprechen. (146)
An dieser Stelle wird der Kernpunkt der Szaszschen Psychiatriekritik deutlich: "Psychische Krankheiten" sind ein Mythos, entsprechend können sie nicht „behandelt“ werden. Psychotherapie nach dem psychiatrischen Modell kann das selbst gesteckte Ziel nicht erreichen.
Krankheiten kann man heilen. Spielverhalten kann nur geändert werden. (228)
Beginnt der Patient während einer Therapie damit, seine Symptome abzulegen, nennt Szasz dies deshalb nicht „Heilung“, sondern „Sprachwechsel“. Der Klient lernt ein neues Sprachspiel. Werden als „psychisch krank“ bezeichnete Verhaltensweisen wie eine Sprache gelernt und benutzt (so wie man zielgerichtet und ohne weitere Reflektion die Muttersprache benutzt), dann gibt es auch keine Ursache „hinter“ diesen Verhaltensweisen.
Wenn Hysterie eine Sprache ist, dann ist es genauso sinnvoll nach ihrer Ätiologie zu suchen, wie nach der Ätiologie des Englischen. Eine Sprache hat eine Geschichte, eine geographische Ausbreitung, ein Regelsystem zu ihrer Benutzung – aber sie hat keine „Ätiologie“.(123)
Pseudomedizinisch ist für Szasz in gleicher Weise die Rede vom „Widerstand“. Zur Beschreibung ausbleibender Veränderungen wählt Szasz stattdessen eine Migrationsmetapher: Immigranten in einem fremden Land behalten oft ihre Sprache und Sitten bei, ohne dass dies durch eine psychische Erkrankung erklärt würde. Entsprechend führen die Patienten in Therapie häufig nicht die von ihnen erwarteten Veränderungsschritte durch, weil sie keinerlei Interesse am Lernen einer neuen Sprache (oder Ausdrucksweise) haben (147). Es gibt subjektiv keinen Grund, das bisherige Verhalten zu ändern, denn es dient, anders als eine medizinische Erkrankung, den Zielen des Patienten. Echte Psychotherapie im Sinne von Szasz hilft dagegen
eine Entscheidung zwischen grundlegenden Zielen zu treffen und wenn Sie gefallen ist, entschiedene Anstrengungen zu ihrer Erreichung zu unternehmen. (218)
Dazu nötig sind die Klärung der Ziele, Bewusstsein für aktuell verfolgte, dysfunktionale Strategien und die Auseinandersetzung damit, wie die Menschen in der Umgebung des Patienten auf die eintretenden Veränderungen reagieren werden.

Szasz zeigt dies am Beispiel der Anna O., die sich wegen Halluzinationen und Angstzuständen bei Josef Breuer in Behandlung befand. Freuds spätere psychoanalytische Deutung ihrer Symptomatik hält er für verfehlt. Der eigentliche Konflikt spielt sich für Szasz auf einer anderen Ebene ab. Anna O. kümmerte sich zur Zeit ihrer Behandlung um ihren kranken Vater. Sollte sie, so wie gesellschaftlich von ihr erwartet, ihre eigenen Bedürfnisse der Pflege des Vater opfern? Szasz vermutet, sie habe mindestens genauso gern ein eigenständiges Leben führen wollen. Er meint, die Besprechung von z.B. sexuellen Impulsen sei ihr und Breuer vergleichsweise leicht gefallen. Für beide wäre es viel schwieriger gewesen, die lebensentscheidende Frage nach Unterordnung oder Selbstbestimmung zu beantworten.

Weil Klient und Therapeut – dem Diktat des medizinischen Wörterbuchs folgend – der Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung ausweichen können, ist das Ergebnis vieler Psychotherapien für Szasz nicht Veränderung, sondern Tatenlosigkeit. Anna O.'s Zustand verschlechterte sich nach Abschluss der Behandlung soweit, dass sie für längere Zeit hospitalisiert wurde. Später wurde sie für ihr Engagement für Waisen und die Emanzipation ausgezeichnet. [6] Bezeichnenderweise wird Anna O. heute von neurologischer Seite posthum eine Epilepsie diagnostiziert, die die wahre Ursache ihrer Probleme gewesen sein soll.

Die moderne Psychologie und Psychiatrie glaubt, größere Erfolge erzielen zu können, indem sie ihre Interventionen auf Diagnosen abstimmt, die nach dem medizinischen Modell erstellt wurden. Jedoch:
In Wirklichkeit sind Psychotherapeuten nur scheinbar Ärzte, genauso wie Hysteriker nur scheinbar Patienten sind: Die Unterschiede zwischen den kommunikativen Interventionen der Psychotherapeuten und den physikochemischen Interventionen der Ärzte stellen eine Kluft in der Wahl der Mittel dar [...]. (249)
Denn
die medizinischen Aspekte der Psychiatrie sind genauso wirklich, wie der Stoff, aus dem des Kaisers neue Kleider gesponnen sind. (249)
Und
Psychiater beschäftigen sich nicht mit psychischer Krankheit und deren Behandlung. In ihrer tatsächlichen Praxis behandeln sie persönliche, soziale und ethische Lebensprobleme. (262)
Ein Blick in die jüngste disziplinäre Entwicklung zeigt, dass Szasz' Eintreten für die Trennung der Einsatzgebiete von Ärzten und Psychotherapeuten erfolglos war. Fächer wie Psychoneuroimmunologie verwischen auch auf der pragmatischen Ebene die Grenzen zwischen ärztlichen und psychotherapeutischen Aufgaben. Doch nach Szasz verfehlt die auf diese Weise disziplinär erweiterte Psychologie das Thema: die sozialen und persönlichen Konflikte der Klienten. Das therapeutische Gespräch ist für Szasz das eigentliche Medium der Veränderung. Es wirkt aber nur dann, wenn es nicht der Objektivierung von „Krankheiten“ dient, sondern lösbare Probleme benennt und durch den Klienten initiierte Schritte zur Veränderung ermöglicht.


Das soziale Argument

Durch die Betonung der Veränderungsarbeit, die der Klient letztlich außerhalb des Therapieraums – durch aktive Bearbeitung seiner sozialen Verhältnisse – leistet, ist Psychotherapie nach Szasz vor allem eine Form sozialen Engagements. Dafür ist keine Kenntnis des psychologischen Apparats des Klienten notwendig. Szasz plädiert vielmehr dafür, das Rollenkonzept in psychotherapeutische Überlegungen einzubeziehen. Was ein Akteur will, wird nur dann erkennbar, wenn man aufgrund der Kenntnisse der geltenden Verhältnisse antizipieren kann, was der Akteur beabsichtigt. Motive und Handlungen lassen sich nur dann erkennen, wenn sie im sozialen Zusammenhang betrachtet werden. Ein Psychotherapeut muss deswegen kaum etwas über die innere Welt seiner Klienten wissen. Im Erkennen der Normen und Ideale, die in der Umwelt des Klienten gelten, sollte er dagegen gut geschult sein. Ausgerechnet diese Fertigkeiten werden jedoch von Psychiatrie und Psychologie kaum vermittelt.
Die grundlegenden Wissenschaften des menschlichen Verhaltens sind deshalb Anthropologie und Soziologie. (149)
So geschult kann der Therapeut dem Klienten dann z.B. helfen zu erkennen, in welcher Weise er den Regeln seiner Umgebung folgt oder zuwider handelt – und welche Konsequenzen das nach sich zieht. Für Szasz ist genuine Psychotherapie demnach keine Durchführung von Heilungsmaßnahmen, sondern soziale Hilfestellung. Sie wird gebraucht von denen, die merken und daran leiden, dass ihre Umwelt nicht nach den für sie selbst vorteilhaftesten Regeln spielt. Szasz sieht für diese Personen drei Möglichkeiten
  1. Sie können sich den Regeln anderer unterwerfen.
  2. Sie können sich aus der Gesellschaft zurückziehen und den Aktivitäten dort entsagen.
  3. Sie können sich der abweichenden Regeln bewusst werden und versuchen, sie einander anzupassen, was nie vollständig erfolgreich ist. (208)
Szasz favorisiert die dritte Variante. Er sieht darin die freiheitlichste Lösung, sie schützt am ehesten die Würde der Beteiligten. Weil sie gleichzeitig auch die mühsamste Variante sei und Maximalziele sich auf diese Weise nur selten erreichen ließen, werde sie nicht immer gewählt. Stattdessen wählten einige die „therapeutische Variante“ und produzierten Symptome, die zur Aufnahme einer Psychotherapie qualifizieren. Sie benutzen ein verarmtes Regelrepertoire:
Weil Hysteriker schon so früh lernen, aus Verlegenheiten und Schwierigkeiten mit einem Minimum elaborierter Strategien heraus zu kommen, ist ihr Leben so wie sie klingen: ganz überaus einfach. (222)
In letzter Konsequenz vertritt Szasz mit dieser Aussage ein autonomes Menschenbild. Fühlt das Individuum sich von anderen gemaßregelt, hat es die Wahl: Es kann die als fremd empfundenen Regeln erleiden, es kann auch Zuschauer der Spiele der anderen bleiben. Oder aber es kann versuchen, als gleichwertiger Partner neue Regeln mit seinen Mitmenschen auszuhandeln. Das ist eine Aufgabe, die manchen nur mit therapeutischer Unterstützung gelingt. Soziale Konstruktivisten bemerken hier die Reibung zwischen der weitgehend sozialen Konzeption von Psyche und dem Konzept der bewussten Wahl. Die modernen Disziplinen Psychiatrie und Psychologie können bis zu diesem Punkt gar nicht erst folgen, weil ihre Theoriebildung seit langem auf die Innenwelt beschränkt ist und die Umwelt vernachlässigt hat.


Fazit

Vor über zwanzig Jahren hat Theo Herrmann [7] Herrmann, T. (1991). Diesmal diskursiv - schon wieder eine Erneuerung der Psychologie. Report Psychologie, 2, S. 11-27., Verfechter der empirischen Psychologie, die Kritik diskursiver Ansätze an der Psychologie als „Anrempeleien“ bezeichnet, und ihnen trotzig ein „Die Karawane zieht weiter!“ entgegengehalten. Thomas Szasz hat für seine Position sprachphilosophische, moralische, emanzipatorische, pragmatische und soziale Argumente vorgebracht. Bis heute lassen Psychiatrie und Psychologie fast nur empirische Argumente gelten. Der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapieforscher Stefan Hofmann, behauptete auf dem dem DGVT-Kongress in Berlin 2012 die Überlegenheit seiner eigenen Konzeption gegenüber alternativen Entwürfen unter Berufung auf „über 1200 Meta-Analysen“. Es brauche nicht mehr Theorie, sondern mehr Forschung. Es ist bis heute so: Die Karawane zieht weiter – durch die Wüste. Thomas Szasz Argumente sollten wieder neue Leser finden.



Erstellt: 10. Dezember 2012 – letzte Überarbeitung: 17. Januar 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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