BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das Mädchen und der General»
von Holger Wyrwa
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Die kleine Lampe auf dem mit Papieren übersäten Tisch erhellte den Raum nur wenig. Die alten protzigen Möbel und die mit Büchern überladenen und sich an den Wänden entlangziehenden Regale bildeten einen beinahe undurchdringlichen schwarzen Hintergrund. Das schwache, bleiche, unruhige Licht der Lampe entriß nur für Momente die Ecken und Winkel des Zimmers der Dunkelheit. Das einzige regelmäßig wiederkehrende Geräusch in diesem Zimmer war das kratzende Gestöhn einer Feder, welches sich hin und wieder mit dem schnaufenden, unrhythmischen Atem desjenigen verband, der an diesem Schreibtisch saß und schrieb.

«Ich bin gekommen, Sie zu töten!» Das Atmen setzte aus. Die Feder schwieg. Für Sekunden war es völlig still. Der Mann hinter dem Schreibtisch sah ruhig von seinen Papieren auf. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und betrachtete neugierig das Mädchen, das vor seinem Schreibtisch stand. «Wie bist Du hier hereingekommen?» fragte er, nachdem er sie eine Zeitlang wortlos angestarrt hatte. «Ihre Wachtposten scheinen sich nicht besonders viel Mühe zu geben, Sie zu beschützen», sagte das Mädchen. Er hörte den verächtlichen Ton in ihrer Stimme. «Vielleicht», sagte er.

Der General trug eine prunkvolle Uniform mit Orden und übergroßen Epauletten auf den Schultern. Er lächelte das Mädchen ruhig an. Sie stand breitbeinig vor ihm, die Beine etwas eingeknickt. Mit beiden Händen hielt sie eine Pistole, deren Lauf auf seinen Kopf zielte. Ein hübsches Mädchen, dachte der General. Er schätzte sie auf nicht älter als neunzehn, vielleicht zwanzig Jahre.

«Wie sehr habe ich auf diesen Tag gewartet, General. Heute werden sie sterben!» Der General nickte. Der feierliche, fast kindliche Ernst in ihrer Stimme ließ ihn lächeln. «Und warum willst Du mich töten?» «Fragt das der Mann, der Tausende von Männern, Frauen und Kindern ermorden ließ?» Der Haß in ihrem Gesicht steht ihr gut, dachte der General und wunderte sich ein wenig darüber, daß Haß ein Gesicht so verführerisch machen konnte. Er mußte plötzlich husten. Sein Körper schüttelte sich und schien sich unter dem Hustenanfall aufzublähen. Im nächsten Moment fiel er jedoch schon wieder in sich zusammen. Der General zog ein Tuch hervor und preßte es fest gegen seinen Mund. Als er es zurückzog, war es rot von Blut. Er betrachtete das Tuch einen Augenblick, dann warf er es in einen Papierkorb.

«Warum ausgerechnet Du?» fragte er das Mädchen. «Wir haben es ausgelost. Ich habe gewonnen», sagte sie stolz. «So, gewonnen hast Du.» Der General verzog sein Gesicht zu einem traurigen Lächeln. «Sie sind alt geworden und machen Fehler. Es war sehr dumm von Ihnen, diesen Flügel des Hauses ganz allein zu bewohnen, ohne Wachtposten vor der Tür. Niemand wird mich mehr daran hindern, Sie zu töten.» Der General nickte mehrmals. «Nein, niemand», erwiderte er leise. Er sah, wie sich der Körper des Mädchens entspannte. Ihre linke Hand löste sich von der Waffe. «Zuerst habe ich geglaubt, daß ich in eine Falle laufe», sagte sie. «Es ging alles zu gut. Aber es ist keine Falle, nicht wahr?» Der General schloß die Augen und genoß die Finsternis. Er schwieg.

«Nein. Es ist keine Falle», sagte das Mädchen, «und jetzt werden sie sterben!» Der General dachte an die Parade, die am frühen Morgen stattgefunden und die er gelangweilt, aber dennoch stolz abgenommen hatte: Blitzende Uniformen, wehende Fahnen, salutierende Gewehre, jubelnde Menschen. «Du bist zu jung, Kind, um zu töten.» «Ich bin kein Kind», sagte sie erbost. Sie legte wieder ihre linke Hand um die Waffe, hielt sie mit beiden Händen auf ihn gerichtet. «Niemand ist in diesem Land zu jung, um Sie zu töten!»

«Du schon», entgegnete er leise. «Was glaubst Du, was passieren wird, nachdem Du mich getötet hast?» «Das Regime wird zusammenbrechen. Das Volk wird sich erheben und kämpfen. Und sobald ihre Armee besiegt ist, wird es freie Wahlen geben. Es wird ein […] » Der General unterbrach sie mit einer Handbewegung. «Das interessiert mich nicht.» Er schüttelte den Kopf. «Ich frage, was geschieht mit Dir, wenn Du mich erschossen hast?» «Ich werde mich töten, damit Ihre Soldaten mich nicht foltern können.» Der General lachte leise. «Ich glaube nicht einmal, daß Du dazu fähig bist, mich zu töten. Aber Dich selbst, Dich selbst wirst Du ganz sicher nicht erschießen!»

«Es ist mir ganz gleich, was Sie glauben.» Der General hörte, wie das Mädchen den Abzugshahn der Waffe spannte. «Hast Du überhaupt schon einmal einen Menschen getötet?» fragte er. Sie bewegte sich nicht, und sie antwortete nicht. Obwohl es in dem Zimmer sehr dunkel war, glaubte er zu sehen, wie ihr Mund zitterte. «Es ist nicht einfach, einen Menschen zu töten. Erst recht nicht, wenn es das erste Mal ist. Sich selbst zu töten, heißt aber, das Leben so zu hassen, wie die meisten es lieben. Und Du glaubst, daß Du es genügend haßt?» Das Mädchen antwortete nicht.

Der General lächelte. «Soll ich Dir sagen, warum Du mich nicht sofort getötet hast, als Du hier eingedrungen bist?» «Sagen Sie es mir.» Der General hörte das Zittern aus ihrer Stimme heraus. «Du hast Angst. Je länger Du meinen Tod hinauszögerst, desto mehr verlängerst Du Dein eigenes Leben. Wenn das nicht Liebe zum Leben ist!?» Der General lächelte sardonisch. Eine Weile blieb es still.

«Wenn Dich meine Männer lebend bekommen, werden Sie Dich zu Tode foltern. Sie werden Dich in die unterirdischen Keller zerren, Dir die Kleider vom Leib reißen und Dich vergewaltigen. Dann werden Sie Dich verhören, Dir Elektroschocks geben, Dich mit Gummiknüppeln schlagen und Dich immer wieder vergewaltigen, bis Dein Körper so abstoßend geworden ist, daß sie sich vor Dir zu ekeln beginnen.» «Halten Sie den Mund.» Es klang für ihn mehr nach einer Bitte als nach einem Befehl. Er sah sie lange an und dachte daran, wie er selbst Mädchen und Frauen gefoltert und vergewaltigt hatte.

Das Mädchen trat einen Schritt auf ihn zu. Sie stand jetzt direkt vor dem Schreibtisch. Der General überlegte, ob er einfach versuchen sollte, ihr die Waffe aus der Hand schlagen. Er hätte nur seine Hand auszustrecken brauchen, um sie zu erreichen. «Ich werde Sie jetzt erschießen.» Der General streckte abwehrend die Arme aus. «Warte noch einen Augenblick», bat er sie. Er beugte seinen Körper etwas schwerfällig vor. «Hat nicht jeder zum Tode Verurteilte einen letzten Wunsch frei?» Sie schüttelte heftig den Kopf. «Haben Sie jemals darauf Rücksicht genommen?» Er antwortete nicht. «Nein», sagte das Mädchen, «Sie nicht!» Der General senkte den Kopf.

Das Mädchen bewegte sich nicht. «Was wollen Sie denn als letzten Wunsch?» fragte sie ihn plötzlich. Der General deutete auf eine kleine Kommode neben dem Mädchen, auf der eine gefüllte Karaffe stand. «Ein Glas Wein, bevor ich sterbe», sagte er und lächelte. Sie zögerte einen Moment. Dann nickte sie. «Kommen Sie langsam her», sagte sie, ging ein paar Schritte zurück und goß vorsichtig etwas Wein in ein Glas. Der General erhob sich von seinem Platz, bewegte sich stöhnend zu der Kommode hinüber und nahm das Glas. Er sagte: «Wenn man weiß, daß man sterben muß, bereut man oft die Dinge, die man getan hat.» Das Mädchen lachte schallend und rief beinahe fröhlich: «Jetzt haben Sie Angst!» Der General sah zu Boden. «Vielleicht.» Er trank in kleinen Schlucken. «Ihre Reue kommt zu spät!» rief sie. «Reue kommt meistens zu spät», antwortete er. Er genoß den Wein.

Das Mädchen trat unruhig von einem Bein auf das andere. Sie blickte auf sein Glas. «Nur noch einen Augenblick», beruhigte er sie. «Gleich kannst Du einen Irrtum berichtigen. Zumindest einen. Für alle Irrtümer dieser Welt aber sind der Kugeln nicht genug.» Er hielt das Glas jetzt seltsam förmlich in der Hand. Dann begann er: «Weißt Du, ich habe immer geglaubt, daß ich die Macht in Händen halte. Dabei ist es genau umgekehrt. Die Macht hat mich beherrscht. Ein Volk kann nur jemand regieren, der außergewöhnlich ist. Verstehst Du das? Er muß so außergewöhnlich sein, daß er über der Macht steht. Er muß sie mit derselben Gleichgültigkeit aufgeben können, wie er sie sich genommen hat. Aber wer kann das? Der gewöhnliche Mensch – wie ich – weiß, daß er sich zum Zeitpunkt, da sie ihm zu entgleiten droht, nur noch mit außergewöhnlichen Mitteln wie Bestechung, Mord, Folter und anderen Scheußlichkeiten an der Macht halten kann.»

Der General hustete. Sein Körper wurde von kleinen Beben erschüttert. Er schien starke Schmerzen in seiner Brust zu haben. «In einem hast Du Recht», sagte er zu dem Mädchen. Er unterdrückte einen erneuten Hustenanfall. «Ich habe mir alles genommen: Geld, Frauen. Vor allen Dingen sie. Es hat mir großen Spaß gemacht, sie zu quälen.» Der General sah, wie das Mädchens vor Wut zitterte. Für einen Moment glaubte er, daß sie ihn sofort niederschießen würde. «Sie Schwein!» rief das Mädchen, «ich werde Sie jetzt töten. Sie werden niemanden mehr quälen!» Der General sah mit einer kleinen Wendung seines Kopfes an dem Mädchen vorbei und rief: «Jaques! Nehmen Sie ihr die Waffe ab!» Das Mädchen fuhr herum. Der General stieß ihr beide Fäuste in den Rücken. Sie stürzte zu Boden. Er warf sich über sie und preßte ihre Handgelenke auf den Boden. Der General war sehr schwer. Stöhnend ließ sie die Waffe los. Der General wartete eine Weile, dann erhob er sich mühsam und hob hustend die Waffe auf. Er ging zur Tür, verschloß sie, zog den Schlüssel ab und warf ihn in eine Ecke des Zimmers. Dann ging er wieder auf das Mädchen zu, das jetzt ganz in sich zusammengekrochen auf dem Boden kauerte. Er sah unermeßliche Angst in ihren Augen. Der General blieb vor ihr stehen und blickte auf sie hinunter. «Es war ein Fehler, Dich zu schicken», sagte er traurig. Dann erschoß er sie.

Der General betrachtete eine kleine Weile das tote Mädchen. Dann blickte er zu seinem Schreibtisch hinüber. Er dachte nach, und da er bereits Schritte und Männerstimmen auf dem Flur hörte, entschied er sich schnell. Er ging zur Tür und stellte sich dicht davor. Als man versuchte, die Tür von außen zu öffnen, hob der General den Revolver und schoß mehrmals durch die verschlossene Tür. Für einen kleinen Moment war es ganz still. Dann erfüllte das Rattern von Maschinenpistolen das Zimmer.



Erstellt: 28. Juni 2001 – letzte Überarbeitung: 28. Juni 2001
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