BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Cioran & Paris, encore une fois»
von Edna Lemgo & Stefan Bärnwald
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Only superficial people
do not judge by appearances.
(Oscar Wilde)

Die Beziehung zwischen dem aus Rumänien stammenden Philosophen und seiner Wahlheimat Paris war das Ziel einer Kurzreise, die uns vor einigen Jahren in die französische Hauptstadt führte. Wir gingen einem, so schien es uns, Widerspruch nach. Wie konnte die Stadt Paris - la ville d'amour und damit das Zentrum der Illusion - zum bewiesenen Ort dieses Erzskeptikers werden? Wir führten die geglückte Beziehung zwischen dem Philosophen und seiner Stadt auf ein harmonisches Miteinander von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zurück. Damit waren wir wohl auf einer richtigen Spur, haben ihr aber nicht weit genug nachgedacht. Das letzte Wegstück wollen wir mit diesem Appendix zurücklegen.

Wer in Paris war, kennt das Gefühl, durch ein leicht beriebenes, leicht bestoßenes und etwas sonnenverblichenes Poesiealbum zu spazieren. Paris ist nicht nur fernab vom Kern der Dinge. Hier erwecken die Dinge gar nicht erst den Anschein, so etwas wie Substanz zu haben.

Cioran teilte diese Neigung zur Oberflächlichkeit. Patrice Bollon beschreibt ihn als einen gescheiterten Heiligen, der von seinen mystischen Exkursionen die Einsicht mitbrachte, dass die Abgründe, da sie von Natur aus bodenlos sind, nirgendwohin führen können. [1] Patrice Bollon (2006): Cioran, der Ketzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Das Zitat stammt aus E.M. Ciorans ‹Syllogismen der Bitterkeit.› Zitiert nach Patrice Bollon, S. 244. Ciorans Denken mündete so in einem über die Spitze getriebenen Skeptizismus, der sich zuletzt noch gegen sich selbst wandte - bis schließlich nichts mehr übrig blieb, woran noch zu zweifeln gewesen wäre.

So gelang Cioran die letzte Lockerung. Da noch der Substanzlosigkeit jede Substanz fehlt, kehrte er aus Achtung vor der Unergründlichkeit der Welt zurück zur Illusion und stellte sich der schwierigsten Aufgabe: einer gewollten Oberflächlichkeit aus Tiefe. Wenn jenseits der Illusion nichts ist, bleibt nur der Entwurf einer eigenen Art zu leben. Bollon sieht Cioran in der Nähe des Dandytums und nennt ihn einen geistigen Aristokraten, dessen Ziel es gewesen sei, sich durch meisterhafte Beherrschung des Scheins vollständig selbst zu erschaffen. [2] Patrice Bollon, a.a.O., S. 248. Anschaulich wird dieses Stilprinzip in Ciorans einzigartiger Kunst des Aphorismus: Die Form des Ausdrucks begrenzt einen Raum, in dem Überlegungen für einen Augenblick festgehalten werden, um sie in ihrer ganzen Schönheit und Vergeblichkeit brillant zu entfalten.

Im Lichte dieses Stilprinzips müssen wir eingestehen, die Beziehung zwischen dem Philosophen und seiner Stadt falsch gedeutet zu haben. Richtig erkannt haben wir wohl ihren beiderseitigen Hang zur Illusion. In der Rückschau war unsere Unterstellung, dass sich Cioran durch das Pariser Spiegelkabinett hindurch und hinauf zu seiner persönlichen Idee der Transzendenz sehnte, allerdings ein grobes Missverständnis.

Wie konnten wir nur annehmen, für den Erzskeptiker gäbe es ein jenseits der Illusion? Cioran und Paris waren das perfekte Paar. Der Widerspruch, dem wir auf unserer Reise nachgegangen sind, löst sich damit auf. Die Stadt der Liebe war nicht die Wahlheimat des Erzskeptikers, obwohl sie das Zentrum der Illusion ist. Paris war Ciorans bewiesener Ort, gerade weil die Stadt das Bild eines reinen Spiegelspiels aus Oberflächen bietet.

Wir bitten um Verzeihung.



Erstellt: 7. Juli 2006 - letzte Überarbeitung: 7. Juli 2006
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