BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Cioran und Paris»
von Edna Lemgo & Stefan Bärnwald
Als PDF-Datei laden

E.M. Cioran bezeichnet Paris als seine Stadt, weil beide, Cioran wie Paris, an ihrer eigenen fundamentalen Langeweile, dem Cafard kranken. Obwohl es in den ‹Cahiers› (S. 240) [1] Alle Zitate von E. M. Cioran aus: Emile Michel Cioran (2001): Cahiers 1957–1972. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. ausdrückliche und deutliche Hinweise darauf gibt, wurde der Zusammenhang zwischen der Pariser Atmosphäre und Ciorans Sicht der Dinge bislang kaum erkundet. Das verwundert nicht, denn echte Spuren von Cioran in Paris gibt es nur wenige. Bezeichnend, daß bei den unzähligen antiquarischen Buchhändlern entlang der Seine kein einziges seiner Bücher zu finden ist. Ciorans Politik der Schnecke, jenes «sich verbergen, sich entziehen, nur gelegentlich herauskriechen» war wohl erfolgreicher, als er es anstrebte (S. 127). Wir wollten es – auf einem Kurzbesuch in Paris – trotzdem versuchen, besser zu verstehen, wie ein Erzskeptiker – ohne Anker im Sein – als Mensch in dieser Stadt heimisch werden konnte.


Gärten der Qualen

Wenn die Pariser mal gerade nicht mit einer Pose der Wichtigkeit durch den öffentlichen Raum eilen, sitzen sie auf unbequemen Stühlen möglichst nah am Straßenrand, um mit ihrer Geschwätzigkeit die Zeit zu erschlagen. Dazwischen bevölkert Paris gerne seine Parks, von denen im Bereich des Quartier Latin, in dem Cioran seit den sechziger Jahren lebte, der Jardin du Luxembourg und der Jardin des Plantes zu finden sind. Beide dienten Cioran bevorzugt als Kulisse für seine Stürze in die Zeit. Wobei wir ihm glauben wollen, daß ihn seine Schlaflosigkeit vor allem zu nächtlichen Spaziergängen trieb. Wahrscheinlicher ist allerdings, daß er seine Verlassenheit – als ‹Ein Eremit mitten in Paris› – auch tagsüber gerne in der sich verlustierenden Menge badete (S. 18).

Der Verzicht wärmt sich an seinen Entsagungen, und so hat Cioran den Grad seiner Entwerdung vermutlich gerne daran gemessen, wie fern er den Menschen in ihrer Nähe war. Im Jardin des Plantes sind es dann auch recht plakativ vor allem die Tiere in der Ménagerie, die Cioran anziehen. Er identifiziert sich mit einer in ihrer krankhaften Willenlosigkeit dösenden Ohrenrobbe, während ihn die Reptilien, in ihrer Entfernung vom Leben, wieder in die Ewigkeit eingliedern (S. 185 und S. 22). Begabt mit einer derart egozentrischen und leidensbereiten Metaphysik verwundert es fast, keine Notiz zum Museum für Naturgeschichte auf der anderen Seite des Jardin des Plantes zu finden, das durch die museale Erhöhung von Werden und Zeitlichkeit eigentlich eine allzu verlockende Folterbank gewesen sein müßte.

Wichtiger als der Jardin des Plantes war für Cioran allerdings der Jardin du Luxembourg, mit dem nach eigener Aussage alle Ereignisse seines Lebens seit seiner Ankunft in Paris verbunden waren: «Dort habe ich über all' meine Kümmernisse gegrübelt» (S. 81). Wer erwartet, daß der Park heute noch etwas von dem florentinischen Charme versprüht, mit dem er im 17. Jahrhundert angelegt wurde, wird natürlich enttäuscht. Wer aber um Ciorans Vorliebe für blutarme Adelige mit einer weltabgewandten Melancholie wie Elisabeth von Österreich weiß, versteht, was Cioran an diesem Park angezogen hat. Maria de Medicis Heimweh, dem der Garten entsprungen ist, wird Cioran ein willkommener Grundton für seine Grübeleien gewesen sein. Ähnlich übervölkert wie der Jardins des Plantes bietet der Garten allerdings zumindest tagsüber keinen Punkt, auf denen das Auge ruhen kann, ohne von Menschen gestört zu werden.

Bemerkenswert erscheint uns an diesem Park die psychogeographische Hauptachse durch die linke Uferseite von Paris, die vom Palais du Luxembourg zum Observatorium führt. Der Weg entlang der Avenue de l'Observatoire, der sehr genau dem Erd-Meridian entspricht, verbindet Kunst und Politik im Palais du Luxembourg mit der durch das Observatorium repräsentierten wissenschaftlichen Beobachtung. [2] Dieser Vergleich findet sich in: Stanislaus von Moos (1999): Fernand Léger: La Ville. Zeitdruck, Großstadt, Wahrnehmung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, Seite 28. Ein Weg also, der gleich drei der komischsten Ausgeburten miteinander verknüpft, die sich der Mensch in seinen lustigen Scheingefechten gegen die Nichtigkeit allen Strebens ausgedacht hat.

Es ist bezeichnend, daß Cioran gerade auf dieser Achse jene Kastanie vor die Füße gefallen ist, die ihm mit ihrem unaufdringlichen Aufprall einen kurzen Blick auf die Bestimmungen unseres Daseins eröffnet hat: «Als ich gerade meinen nächtlichen Spaziergang, Avenue de l'Observatoire, machte, fiel mir eine Kastanie vor die Füße. Sie hat ihre Zeit hinter sich, ihre Strecke zurückgelegt, sagte ich mir. Und es stimmt: auf die gleiche Art vollendet ein Mensch sein Schicksal. Man reift und dann löst man sich vom Baum ab.» (S. 192) In dieser kleinen Episode verdichtet sich nahezu die ganze Philosophie Ciorans. Vor dem Hintergrund einer an die Lächerlichkeit grenzenden Welt ohne Geheimnis bleibt uns nur ein zielloses metaphysisches Heimweh nach Reifung und Lösung aus der Zeit. Letztlich bleiben wir aber ihre Gefangene, ohne Aussicht auf Gnade. «Alles ist dazu bestimmt zu fallen. Das ist der tiefste Sinn der Zeit» (S. 193).


Disneyland, Paris

Paris dürfte im Hinblick auf diese Philosophie in seiner Hingabe an die Zeit und die Vergänglichkeit für Cioran der ideale Ort gewesen sein, um sich mit der Welt zu geißeln. Nirgendwo in Europa war und ist es für einen Menschen, der an sich und der Welt krankt und sein Leiden genießt, einfacher, seine Tragikomödie zu inszenieren. Zu präsent ist in Paris das ständige Gefühl eines Mangels an Sein. Hier trifft eine Beobachtung zur ‹Agonie des Realen› von Jean Baudrillard: Er stellt sehr richtig fest, daß die Amerikaner Disneyland erfunden haben, um davon abzulenken, daß die Realität längst zu ihrem eigenen Simulakrum geworden ist. Was wäre da angemessener, als das europäische Disneyland in Paris anzusiedeln? In einer Stadt also, die sich als eine endlose Abfolge von Kitschpostkarten präsentiert, sorgsam behütet von ihren Einwohnern, die sich offenbar durchaus wohl dabei fühlen, ihr Leben an der wunderbaren Kleinmädchenwelt von Amélie auszurichten. Ein banales Inferno reiner, auf sich selbst bezogener Oberflächlichkeit. Ständig «der Eindruck, daß alles, was dort geschieht und durchdacht wird, nicht an den Kern der Dinge gelangt, sondern sich auf sein Spiegelbild beschränkt» (S. 245).

Es dürfte zu nicht geringen Teilen diese Grundstimmung gewesen sein, in der sich Cioran in seinem Hang zur Selbstkasteiung wohlgefühlt hat. Je nach metaphysischem Befinden, hat die Apotheose der Oberflächlichkeit ja auch ihre bequemen Seiten: Nirgendwo drohen illusorische Untiefen, wenn eine weibische Stadt ohne Geheimnis sich selbstverliebt darin erschöpft, ihre Laufräder des Scheins in Bewegung zu halten. Die Verwandtschaft von Cioran und Paris dürfte in diesem eitlen Egozentrismus liegen, den sie gemeinsam der existentiellen Nichtigkeit entgegenhalten. Der wichtigste Unterschied zwischen dem Skeptiker und seiner Stadt ist zwischen ihm und ihren Einwohnern zu suchen: Wo die Pariser in das Kreisen der Zeit vernarrt sind, sehnt sich Cioran durch sie hindurch in seine Gespinste von Dauer und Sein. Und wie in jeder gelungenen Beziehung war es vermutlich dieses Zusammenspiel von Gemeinsamkeit und Unterschied, das den Nährboden bereitet hat, in dem auch ein Heimatloser Wurzeln schlagen konnte.



Kommentare:


20. November 2002

Liebe Reisejournalisten,
offenbar haben Pariser Existenzialisten eine Neigung zu Parks und Kastanienbäumen. Rüdiger Safranski interpretiert in seiner mehr als empfehlenswerten Studie «Das Böse oder das Drama der Freiheit» eine Schlüsselszene von Sartre. Da ich mich mit Sartre nicht so gut auskenne, war ich überrascht zu lesen, das dieser – genau wie Cioran – in einem Park von einer Kastanie erleuchtet wurde. Safranski zitiert aus Sartres ‹Ekel›:
«Also, ich war gerade im Park. Die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht mehr, daß das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben. Ich saß da, etwas krumm, den Kopf gesenkt, allein dieser schwarzen und knotigen, ganz und gar rohen Masse gegenüber, die mir angst machte.»
Das ist doch wirklich bemerkenswert. Cioran erfährt im Aufprall der Frucht des Kastanienbaums die Nichtigkeit des Daseins, und Sartre zeigt sich die absurde Bedeutungslosigkeit in den knorrigen Wurzeln des gleichen Baums. Was hat es da wohl zu bedeuten, das die Kastanienbäume dieses Jahr nicht nur in Berlin, sondern auch in Bochum ziemlich elend aussehen? Ich hab' so meine Befürchtung, wie es um das Herz der Welt bestellt ist.
Besorgte Grüße,
Cordula



Erstellt: 20. September 2002 – letzte Überarbeitung: 20. November 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.