BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Believe it or not!»
von Sandra Dick
Als PDF-Datei laden

Dies ist ein Versuch die triste Buntheit der Mickey-Maus Stadt Orlando aus der farblosen Tristesse Berlins heraus zu beschreiben. Ich schließe meine Augen vor den herbstgrauen Fassaden der gegenüberliegenden Häuserwand und rufe mir die schwüle Gewächshaushitze Floridas ins Gedächtnis. Man kann kaum atmen, so dick und heiß ist die Luft. Wir kommen in der Nacht an. Mein Gepäck ist unterwegs verlorengegangen. Ich besitze nichts mehr in diesem Moment. Der Taxifahrer zeigt uns stolz ‹seine› Stadt. Später werde ich herausfinden, dass fast alle, die hier arbeiten und leben, diese Stadt verabscheuen. Diese Stadt, die eigentlich nur eine nie enden wollende Straße ist, der ‹International Drive›. Ein Weg mit dem Abscheu klarzukommen, scheint stolz auf diese Straßenstadt zu sein.

Der Stadtkern Orlandos liegt ca. eine Busstunde entfernt. Mit dem Auto sind es 45 Minuten. Die meisten Menschen, die auf dem ‹International Drive› ankommen, werden diesen Stadtkern nie kennen lernen. Orlando wird ihnen als eine endlos lange Burgerketten-Kette in Erinnerung bleiben, die blinkenden Filialen aufgezogen wie Perlen auf einer nach ranzigem Fett stinkenden Schnur namens ‹International Drive›. Schon bevor man sich über den permanent in der stickigen Luft liegenden Gestank nach altem Fett bewusst wird, stellt sich ein bedrückendes Gefühl ein. Zunächst nicht beschreibbar. Schließlich sind da ja die Palmen. Auf die hat man sich ja gefreut. Mehr will man ja zunächst gar nicht, wenn man nach Florida kommt. Wo man natürlich eigentlich gar nicht hin wollte, aber wo man schon mal da ist, freut man sich auch auf die Palmen. Es ist auch erstmal ganz schön grün. Der Rasen wächst dicht und plastikartig auf den vielen kleinen Parkanlagen, die da heißen ‹Pirates Grove› oder ‹Mediterranean Mercado›. Da fährt man mit dem Taxi vorbei, und dieses bedrückende, beklemmende Gefühl verstärkt sich zunehmend. Was ist das nur?

Tagsüber kann man beobachten, dass mindestens genauso viele Menschen hier mit der Pflege des Rasens beschäftigt sind, wie andere mit dem Braten von Burgern, Pancakes, Steaks, Pizzen, Burritos, Pommes. Und, hey, sogar Hummer gibt es hier als Fast Food. Die dazugehörigen Gastronomien heißen: Wendys, Dennys, MacDonalds, Jack in the Box, Burger King, Pizza Hut, Chillis, Sbarros, Lobster House und und und – ohne Franchise kein Fressie hier. Yammie yammie. Wer seine Arbeitszeit weder für Fressie noch für die Erhaltung des Plastikrasens einsetzt, verkauft Sonnenbrillen oder Bikinis, schuftet in Vergnügungs-, Verzeihung, Themenparks. Als da wären: Wonderworks, Magic Kingdom, Typhoon Lagoon, Sea World, Universal Studios, Wet'n Wild und nicht zu vergessen Disney World. Um nur die Highlights zu nennen. Und wer hier auch nicht untergekommen ist, hat vielleicht einen Job in den unzähligen Holidays Inns, Quality Inns, Fairfield Inns, Masters Inns, Bahama Inns, Best Western Inns, und wie sie noch so alle heißen.

Der Taxifahrer bittet uns, nun unseren Blick nach rechts zu richten. Da gäbe es dann eine der absoluten Hauptattraktionen zu sehen. Wow, ich dachte, die hätten wir schon gehabt. Ich zumindest war schwer beeindruckt von dem Zwanzig-Meter-Bärchen vor dem größten Toys'R'us der Vereinigten Staaten. Nachdem sich uns aber der Anblick des berühmten ‹up-side-down-houses› von Wonderworks bietet, auf dem sogar die Palmen nach unten wachsen, wissen wir, Teddy war gestern. Wahnsinn das alles, der Taxifahrer lächelt, er ist echt stolz, in einer Stadt zu leben, die eine Straße ist, an der sich die vielzähligsten Themenparks der Welt angesiedelt haben. Und immerhin, so erfahren wir, ist Disney World rein flächenmäßig gesehen, dreimal so groß wie Manhattan. Der Taxifahrer lächelt. Was soll er auch sonst machen. Sein Lächeln ist so pastellig wie die Fassaden der Hotels, Motels, Burgerketten, Bikini- und Sonnenbrillenläden. Es ist so pastellig wie frische Pommeskotze.

Als wir endlich nach einer halben Ewigkeit fast unser Holiday Inn erreicht haben, bittet uns der Fahrer ein letztes Mal um Aufmerksamkeit. Wir schauen nach rechts. Uns fallen die Augen schon fast zu. Durch nurmehr kleine Sehschlitze erblicken wir ein Haus. Es steht richtig herum. Dafür versinkt es turmvonpisa-mässig im Boden. Über dem Hauseingang blinkt ein Leuchtschild: ‹Believe it or not!›.

Während wir am Pool unseres Holiday-Inns sitzen, dicken amerikanischen Kindern beim planschi-planschi zuschauen, unseren Dennysburger essen, über die Vor- und Nachteile des Kopfüberwohnens diskutieren und überlegen, ob denn jetzt $100 wirklich zuviel Eintritt für Sea World sind und wir nicht doch lieber ins Wet 'n' Wild gehen, und während ein schwarzer Angestellter des Holiday Inns, der heute Nacht, wenn wir im Mediteranean Mercado unser letztes Budweiser trinken, zusammen mit all den anderen Schwarzen, die in den Burgerketten arbeiten – natürlich niemals am Verkauf sondern immer in der Küche – eine Stunde mit dem nach Toilettenstein stinkenden Bus zurück in den Stadtkern fahren wird, den Plastikrasen pflegt, in dem wir mit unseren Füßen wühlen, weil dass so schön künstlich kitzelt, bebt plötzlich die Erde.

Ein Erdbeben? Gibt es hier Erdbeben? Mir gefriert die Haut im Nacken als mir meine Rezeptoren melden, dass es sich hier keinesfalls um ein singuläres Beben handelt, sondern um ein Etwas, dass die Erde zum beben bringt. Und die zunehmende Stärke der sukzessiven Beben kündigen das Herannahen dieses Etwas an. Neben dem Beben der Erde vernehmen wir nun ein hohes Sirren. IRGENDWIE KOMMT MIR DAS HIER BEKANNT VOR, DIESES SIRREN, WOHER KENNE ICH NUR DIESES SIRREN? Die dicken Kinder im Pool beginnen zu kreischen, verschlucken sich am Chlorwasser und ertrinken innerhalb von Sekunden, als der Kopf einer ersten atomar verseuchten Supranuklearen-Riesenameise hinter einer Palmenfront erscheint. SIE IST MINDESTENS 30 METER GROSS, DIE SAU! Hinter ihr erscheinen noch mehr ihrer Art. Sie müssen das schreckliche Ergebnis eines fehlgelaufenen Nuklearexperiments in der Wüste Nevadas sein und sich wegen des angenehmen Klimas auf den langen Weg nach Florida begeben haben! OH MEIN GOTT! Aus ihren Augen schießen grellgelbe Laserstrahlen auf die bereits toten und auf dem Rücken treibenden Kinderleiber im Pool. Die Leiber verdampfen innerhalb von Millisekunden. Die Strahlen treffen auf die kreischenden fetten Mütter der verdampfenden dicken Kinder. Auf den Supranuklearen-Riesenameisen reiten 20-Meter Teddys, die die Laserstrahlen der Ameisen auf die dicken toten Kinderleiber im Pool lenken.

–klick–

Ich bitte jemanden die ‹Angriff der Riesenameisen›-Hörspielkassette im Ghettoblaster umzudrehen, lehne mich zurück in meine Sonnenliege, rücke meine brandneue Sonnenbrille zurecht, zupfe das Oberteil meines quietschbunten Bikinis zurecht (nur $25!!!), bohre meine dicken Zeh noch tiefer in das Plastikgras und nehme mir vor, bei der nächsten Gelegenheit eines der dicken Kinder im Pool unterzudöppen.

Ich öffne meine Augen und starre wieder auf die graue Berliner Häuserwand gegenüber. Ist der Versuch geglückt? Ich stehe auf, fülle fünf Wasserbomben mit fünf verschiedenen Pastellfarben, gehe zurück auf meinen Balkon, öffne die Tür und knalle die Bomben auf die Hauswand gegenüber. Fuck Florida.



Erstellt: 29. November 2002 – letzte Überarbeitung: 29. November 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.