BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Shanghais Strassen»
von Lisa Blausonne
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Regen tropft von roten Laternen, die an Fenstern im Wind wehen; kleine platschnasse Hunde trotten ziellos zwischen Fahrrädern umher; ein Chinese trägt in großen Hängekörben Passionsfrüchte, die er laut schreiend anbietet; eine Frau im Pyjama nimmt vor der Tür ihre Wäsche ab; zahnlose Opas im Unterhemd sitzen auf Holzkisten am Straßenrand und spielen Mah-Jongg; hoffnungsfrohe Jugendliche, die sich ihre schwarzen Haare grellgelb oder rot gefärbt haben, verbringen den Tag damit, lässig in einem Frisörladen oder Massagestudio zu sitzen, auf Kundschaft zu warten, sich selbst im Spiegel anzuschauen und dabei zu versuchen, mit kleinen Fächern ein wenig die schwüle Hitze zu vertreiben. In manchen Frisörläden soll verborgen Prostitution florieren.

Dreck und Schlamm der regennassen Strassen spritzen auf meine Hosenbeine. Ich schlängele mich durch die Strassen, bin Teil einer pulsierenden Menschenmasse, die zwischen Bussen, Taxen, Fahrrädern und Garküchen zerfließt. Um mich herum sind nur Chinesen, fremde Gesichter, dunkle Gesichter, dunkle Augen, dunkle Haare, Frauen, die, gleich welchen Alters, wie zerbrechliche Mädchen wirken. Keine Westler zu sehen. Ich bin ein Lau-Wei, ein Ausländer, für alle gut sichtbar. Es ist kaum Platz, die Menschen reden laut, spucken geräuschvoll aus, rempeln mich an und um, weil sie es gewohnt sind, andere Menschen zu berühren.

Ich biege in die Einkaufsstraße Nanjing Lu ein und gehe an Bronzefiguren vorbei; eine westliche Familie mit Kinderwagen ist abgebildet, die Frau mit Locken trägt Einkaufstüten. Der Wunsch, zum Westen aufzuschließen. Glaube an den Fortschritt, wo sonst kaum Glaube mehr zu finden ist. Morgens früh, bevor die Geschäfte öffnen, sitzen die Menschen vor den großen Kaufhäusern auf den blitzblank geputzten Flächen. So was wie Stolz meine ich in ihren Gesichtern zu sehen. Die Alten machen allmorgendlich in Zeitlupe Tai Chi oder halten Tanzstunden vor den Schaufenstern, sie bringen ihren Rekorder mit und bewegen sich zu den für mich fremdartigen Klängen.

Obgleich die Globalisierung in den Vorzeigestraßen auch für amerikanische Einheits-Cafés sorgt, befinde ich mich in einem Wunderland, einem freundlichen und dreckigen Wunderland. Denn hinter jeder Straßenecke öffnet sich eine andersartige Welt, über die ich staune. Sobald ich die autofreie Einkaufsstrasse verlasse, bin ich in der chinesischen Altstadt mit heruntergekommenen Häusern und kaputten Fenstern. Kinder pinkeln in die dunklen Ecken der engen Gassen, da sie kein Klo im Haus haben. Ich kaufe an einem Stand, der gleichzeitig als Wohnraum dient, eine rote Keramikfigur für 100 Ren-Min-Be. Der gutgelaunte Verkäufer hat gelbe und verdreckte Fingernägel wie Krähenklauen, sie sind so lang, daß sie sich krümmen. Er will damit zeigen, daß er nicht auf der Strasse arbeiten und zu den Heerscharen von Bauarbeitern gehören muß.

Ich schlendere von Stadtviertel zu Stadtviertel, besuche eines der wenigen Museen und schaue mir dort Buddhafiguren an, gehe in ein Teehaus an einem Goldfischteich und trinke grünen Tee mit einer sich langsam öffnenden Jasminblüte. Ich treffe eine chinesische Freundin, wir lassen uns einen Qipao, ein klassisches chinesisches Kleid aus Seide schneidern und kaufen kopierte DVDs. Wenn ich meine chinesische Freundin anschaue, bin ich geblendet von ihrer Schönheit. Aber seitdem ich sie Hummer essen sah, geht mir das Bild nicht aus dem Kopf, wie sie ihren Mund öffnet, ihren Speisebrei achtlos auf den Teller tropfen läßt und weiter kaut. Es ist die angemessene Art, Hummer zu essen - und die Reste auszuspucken.

Ich winke ein Taxi herbei, das mich über die doppelstöckige Autobahn an das andere Ende der Stadt bringt. Ich möchte mir einen Tempel ansehen. Dort angekommen denke ich, daß ich in meinem Leben bereits genug Tempel gesehen habe. Auch hier sind wieder so unglaublich viele Menschen, daß mir ihre Nähe bald zuviel wird. Ich hätte erwartet, daß sie in Muße Stück für Stück ein Räucherstäbchen nach dem nächsten anzünden und einen Moment verharren. Statt dessen lassen sie Bündel von Stäbchen brennen, werfen diese auf ein dafür vorgesehenes Rost, vernebeln damit den Tempelhof und verschwinden in größter Eile wieder.

Ich sehne mich nach Stille und nach Grün, ich mag keinen Asphalt mehr sehen, keine Abgase mehr riechen, keine hupenden Autos mehr hören. In der Ferne sehe ich einen kleinen Park, beleuchtet, mit einem Basketballfeld, auf dem Jugendliche spielen. Niemand sitzt auf dem Rasen, das ist verboten. Es sind auch keine Bänke zu sehen. Es gibt keinen Platz zum Verweilen, auch nicht zum Lesen. Ich frage mich beiläufig, ob ich jemals jemanden in dieser Stadt lesend gesehen habe. Ich gehe durch den Park, nehme Vogelstimmen wahr und muß fast weinen. Vogelstimmen. Wann habe ich die zum letzten Mal gehört? Zwei Chinesen sitzen auf den jungen Bäumen und schneiden sie zurecht, die Äste fallen auf den angelegten, abgezirkelten Weg. Vor meinen Füssen häufen sich frische Äste mit grünen Blättern - einen Moment lang habe ich den Impuls, mich hineinzuwerfen, mich in dem frischen Grün zu wälzen, seinen Duft einzusaugen und laut zu jauchzen: Ja, es muß eine höhere Macht geben, und ich danke ihr, daß ich hier sein, daß ich das erleben darf. Doch ich widerstehe, durchquere statt dessen den Park und kaufe mir am Straßenstand eine mit Gemüse gefüllte Teigtasche.

Am nächsten Tag fahre ich drei Stunden in einem überfüllten Zug, um an den West-See zu kommen. Dort leihe ich mir ein Fahrrad und bin glücklich über den Wind in den Bäumen, ich esse Eis aus roten Kartoffeln und freue mich über den chinesischen Steingarten, die Architektur der klassischen Bauten, über uralte Holzpagoden und Brunnen mit Steindrachen. Zurück in Shanghai frage ich mich, warum ich in dieser Stadt lebe, dieser häßlich-schönen Metropole, die für mich Yin und Yang verkörpert: sie trägt das Gegenteil dessen, was ich an ihr liebe, bereits in sich.

Zu den Lieblingsmomenten der letzten Zeit gehören die Augenblicke, an denen ich morgens um halb sechs die Kreuzung von Renmin-Lu und Zhongshan-Lu überquere, dort, wo elfspurige Strassen zu einem gigantisch großen Viereck zusammenkommen. Zu dieser frühen Stunde kann ich einsam mitten auf der Strasse joggen, und meist halte ich auf dieser riesigen Kreuzung ganz kurz inne, um nachzufühlen, wie ich Teil dieser Stadt werde. Kurze Zeit später werden hier hunderte von Autos und Bussen ein alltägliches Verkehrschaos verursachen. Es ist die Kreuzung vor dem HuangPu Fluß und wenn ich sie überquere, freue ich mich schon auf den Anblick der Wellen, die das Wasser schlägt, wenn die Boote vorbeifahren.

Abends gehe ich zur Yogaschule in der Fuxing-Lu, meiner von Platanen gesäumten Lieblingsstrasse im französischen Viertel. Dort gibt es versteckte Garten-Cafés, nette Jazzbars und freundliche Blumenhändler. Nach der Yogastunde sitzen wir noch erschöpft auf Holzbänken beisammen und trinken Saft. Joyce beißt in eine Tomate, meint, sie könne gut nur von rohem Gemüse leben. Sie erzählt von ihrem Lehrer in Indien, der nur aus Haut, Knochen und Energie bestünde, und der einige Gewürze ablehne, weil diese schlecht für den Körper seien. Und Michael aus Kanada, mein Lehrer, erwähnt einen Yogi, der sich die Zähne ausgeschlagen habe, um zu demonstrieren, daß er kein festes Essen zu sich nimmt, denn alles andere behindere den Energiefluß. Ich schaue auf meinen Karottensaft und murmele «Meine Güte, bin ich normal, das wußte ich gar nicht!» und die Gruppe lacht. Ich meine es aber ernst.

Später liege ich im Bett und schalte die Klimaanlage aus, weil ich friere. Augenblicklich stellt sich eine bleierne Hitze ein, ich greife erneut zur Fernbedienung und schalte die Klimaanlage wieder ein. Dann stopfe ich mir Stöpsel in die Ohren, weil die Bauarbeiten draußen einfach zu laut sind. Ringsherum werden die chinesischen Gassen Stück für Stück abgerissen, um Platz für neue Hochhäuser zu schaffen. Oft geschieht dies per Hand mit einem Hammer, die ganze Nacht hindurch, und die Baustellen sind beleuchtet wie Fußballfelder. Trotz der Ohrstöpsel werde ich wieder aus dem Halbschlaf gerissen, weil ich mitten in der Nacht eine sms erhalte und mein lokales Telefon einen furchtbaren Klang hat. Ein Kollege, Franzose, den ich flüchtig kenne, schreibt mir, daß er aus Singapur wieder da sei. Ich frage mich, wie einsam die Menschen hier sind. Für manche Zugereiste ist es, als hätten sie kein eigenes Leben mehr. Vieles, was eine Identität stabilisiert, ist weg: Familie, Freunde, intellektueller Kontext. Ich versuche wieder einzuschlafen. Es geht einfach nicht. Ich schalte die Klimaanlage wieder aus. Schließlich finde ich mich auf der kühlen, marmornen Fensterbank wieder. Ich bin im 25. Stock und sehe Hochhäuser, die nach Mitternacht nicht mehr so schöne bunte Lichtspiele abgeben, weil der Strom gespart wird, aber die Reklame ‹Capitalland› ist gut lesbar. Später träume ich von weißen Perlenketten, die Sonnenlicht abgeben und von lachenden Buddhas, die Tango tanzen.

Am nächsten morgen wache ich in einer Yogaposition auf, meine Arme sind verdreht und mein rechtes Bein angewinkelt hinter meinem Rücken. Es ist Montag. Von draußen wabert schwüle Junihitze herein, im Bad schwitze ich bereits so sehr, daß es keinen Sinn macht, mich zu pudern. Draußen scheppern Kinderlieder aus riesigen Boxen des Kindergartens, der unten vor dem Gebäude steht, in dem ich wohne. Ich verbringe den Tag im schicken Büro einer deutschen Firma, 13 Stunden lang, ohne zu merken, wie schnell die Zeit vergeht. Zwischendurch stelle ich mich ans Fenster, um die Tauben unter mir zu beobachten, wie sie in eleganten Bögen um die Hochhäuser fliegen. Und die Kähne, die lautlos auf dem Huangpo-Fluss dahin gleiten. In Shanghai wird sehr viel gearbeitet. Und abends oft sehr viel getrunken. Ich mache jeden morgen eine Viertelstunde einen Kopfstand, um nicht die Nerven zu verlieren und gehe so oft wie möglich joggen.

Eines frühen Morgens laufe ich mit dem Architekten, der vor über zehn Jahren aus New York nach China gezogen ist und viele der verspielten Haustürme in Shanghai gebaut hat, die Hua-Hai-Lu entlang. Uns kommen vereinzelt alte lachende Männer entgegen, die flatternde rote Drachen steigen lassen. Der Architekt erzählt mir mit leuchtenden Augen, wie er als kleiner Junge träumte, mit einem Sakko bekleidet und ein wenig Geld in den Taschen mit dem Fallschirm in China zu landen. Er wollte das Abenteuer. Und lebt es immer noch. Er sagt, er habe anfangs gedacht, je länger er hier sei, desto mehr und mehr würde er vom Leben der Menschen hier verstehen. Aber jetzt wüßte er, daß er sie nie begreifen wird.

Das Fremde bleibt fremd, wenngleich seine Farben vertrauter werden.



Erstellt: 17. August - letzte Überarbeitung: 17. August 2004
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