BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Grün»
von Henriette Orheim
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Wir waren schon einige Stunden gegangen, als wir gegen Mittag einen hohen Kiefernwald erreichten. Der uns leitende Weg führte hier scharf nach links in einen immer dichter werdenden Wald hinein, und nach einer kurzen Weile ging es für uns überraschend in Serpentinen sehr steil hinab in ein enges Tal. Es hatte einige Tage sehr stark geregnet, und angesichts des rutschigen und völlig grundlosen Weges hinab in das Tal mühten wir uns ganz anmutig, einigermaßen unbeschadet auf den Beinen zu bleiben. Albertine gelang dies mit ihren Stöcken wie immer sehr gut, doch ich hatte große Probleme, denn mein Stolz, nicht auf ein ‹Nordic-Walking-Niveau› hinab sinken zu wollen, brachte mir zwei Stürze ein. Wir waren an diesem Frühlings-Mittag jedoch dankbar und glücklich, denn es hatte aufgehört zu regnen und so durften wir für eine ganze Weile auf die lästigen Regenhüllen verzichten, von denen wir uns am vorigen langen Tag auch nicht nur für wenige Minuten hatten befreien können.

Unten im Tal angekommen versuchte ich - so gut es eben möglich war - in einem Bach die gröbsten Spuren dessen, wozu mein Stolz geführt hatte, abzuwaschen. Dann gingen wir noch eine kleine Weile nach links an dem Bach entlang und weiter in das Tal hinein, bis wir eine alte, sehr glitschige Holzbrücke erreichten. Wir überquerten diese - und blieben wie aus Erz gegossen stehen, denn vor uns öffnete sich ein wahrhaft grandioses Tableau!

Hier muß ich erläutern, daß wir während des steilen Abstieges im Kiefernwald kaum eine Gelegenheit hatten, einen Blick auf das zu riskieren, was uns jenseits des Tales erwarten würde. Und unten - am dicht mit Erlen bewachsenen Ufer des Baches - war nichts zu erahnen gewesen von dem Wunder, welches uns nun umfing.

Direkt hinter der Brücke traten wir in einen Buchenwald, der sich ohne Übergang an den hohen, dichten Kiefernwald anschloß, den wir gerade verlassen hatten. Die Buchen waren sehr groß und alt, bestimmt 60 Jahre oder mehr, und sie hatten mächtige Baumkronen, die kaum ein Himmelslicht durchließen. Unterhalb dieser riesigen Buchen hatte sich aus den vielen herabgefallenen Bucheckern ein beinahe undurchdringliches Ensemble aus jungen Buchen gebildet, welches unseren weiteren Weg wie einen Laubengang, wie eine Pergola umschloß. Und dieser lange Tunnel war so schmal und so niedrig, daß man ihn nur hintereinander passieren konnte und auch nur, wenn man bereit war, seinen Kopf ein wenig einzuziehen.

Und was war an diesem Buchenwald und diesem Laubengang nun so beeindruckend? Ich will versuchen, es zu beschreiben, auch wenn meine Worte nicht genügen werden: Unser erster Ausruf nach dem ersten Blick auf diesen grünbezweigten, grüngeschmückten und grünumwölbten Tunnel war: ‹Mein Gott, welch ein Grün›! Die feuchten Blätter der jungen, aufstrebenden Buchen waren von einem unendlich hellen, luftigen, lichten, zarten, durchsichtigen und blassen Grün, einem Frühlingsgrün, einem Hoffnungsgrün, wie man es gelegentlich bei ganz empfindlichem Saatgut sehen kann, das eben austreibt. Es war kein gelbliches Lindgrün, kein albernes Wiesengrün, kein Spinatgrün, nein, in dieser Dämmerung unter den hohen alten Buchen zeigten die vielen jungen und kleinen Baumwesen ein ganz und gar ungreifbares und unbegreifbares Grün, ein Wundergrün, ein Sehnsuchtsgrün. Und die Schönheit dieses Grüns war gleichzeitig eine Klage über ihre Vergänglichkeit.

Noch lange Zeit, nachdem wir den Buchenlaubengang passiert hatten, sprachen wir nicht. Wir gingen Schritt für Schritt - und meditierten über das Wort ‹Grün›.



Erstellt: 1. Juni 2005 - letzte Überarbeitung: 1. Juni 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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