BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Berührtes Unberührtes»
von Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

Es war der sechste Tag unserer Wanderung. Am Abend vorher, på Grimsdalshytta, waren wir alle etwas unruhig und skeptisch, denn der Weg, der uns erwartete, war der bisher längste und einsamste und unsere Beine waren ziemlich müde - nach den schönen Wegen, die wir bis dahin schon gegangen waren.

Wie immer brachen wir früh auf. Es war sehr kalt und regnerisch an diesem Morgen, die Wolken hingen sehr tief und ein unangenehmer, unfreundlicher Wind blies uns aus Südwest direkt ins Gesicht. Als wir nach etwa 2 Stunden den steilen Aufstieg bis zum Abzweig nach Haverdalsæter bewältigt hatten, waren wir alle ziemlich naß und erschöpft. Wir wußten, daß es noch etwa 6 bis 7 Stunden bis nach Høvringen waren, aber wir sprachen nicht darüber.

Nach einer kleinen, ungemütlichen Pause wanderten wir am Staudamm entlang und dann den Storvassberget hinauf. Wieder eine anstrengende Steigung, und der Pfad und die Wegzeichen waren kaum zu erkennen. Doch als wir oben angelangt waren und zurück blickten, brach unvermittelt die Wolkendecke auf, Flecken von blauem Himmel wurden schnell immer größer und, tatsächlich, die Sonne kam hervor. Vertraut mit der Plötzlichkeit solcher Wetteränderungen untersuchten wir eine Weile den Himmel nach allen Richtungen hin. Doch, das Aufklaren schien stabil, das Wetter wurde wirklich besser. ‹Aus heiterem Himmel› verbesserte sich unsere Stimmung und wir entledigten uns unserer Regensachen.

Auf unseren Wanderungen in Norwegen suchen wir ja immer Wege, die möglichst nur von Wenigen gegangen werden, wir suchen die vielen Seitenpfade. Und wenn wir dann unterwegs sind, vereinen sich Wind, Weite, Wärme, Kälte, Stille und Einsamkeit und symbolisieren sich in dem Pfad, dem wir gerade folgen, sie werden eins mit ihm. Mitunter ist der Verlauf des Pfades schon weit im Vorhinein zu erkennen, es gibt aber auch Pfade, die man mühsam, über endlose Felsenmeere oder Schneefelder hinweg, erfinden muß, sich dabei immer von einem roten T zum anderen bewegend. Das rote T wird von der Norwegischen Touristenvereinigung sorgsam auf Steine, Blöcke und Felsen gemalt, doch auf den von uns bevorzugten Nebenwegen und Seitenpfaden sind die roten Ts meist so alt und verwittert, daß wir schon gut aufpassen müssen, wenn wir unseren Weg nicht verfehlen wollen.

Ach, das rote T, es ist für uns ein Sinnbild für das Wunderbare des Draußenseins, das Ausgeliefertsein an Wetterfreuden oder -unbill, die Einfachheit der Fortbewegung, das Versiegen der Gedanken, die innere Einkehr, die Versenkung, die Schritt-Meditation. Das rote T ist für uns zu einem Mandala geworden. In Deutschland gibt es fast nur von Menschen gewaltsam konstruierte Landschaften. Und hier? ‹Unberührte› Natur, berührt von roten Ts - und hin und wieder von einem Wanderer. Einsamkeit ist Luxus.

Soll ich noch etwas über die berauschende Stille in Norwegens ‹unberührter› Natur sagen? Das große und unglaubliche Faszinosum ist zwar, daß es keine Zivilisationsgeräusche gibt, dennoch ist es nicht still. Denn wenn wir über ‹Fjell og Vidde› gehen, ist fast immer ein mittelstarker Wind, der in den Ohren rauscht. Haben wir hier in den Bergen schon einmal eine Windstille erlebt? Ich kann mich nicht erinnern. Um ein Pausenplätzchen zu suchen, müssen wir also nach einem Felsen, einer Mulde, einem Abhang Ausschau halten. Und dort dann, vielleicht gar in der Sonne liegend, empfinden wir - Stille. Aber ‹nicht wirklich›. Je mehr man sich konzentriert, desto mehr hört man: Die wiwiwi-Laute von Küken einer Rype, das Murmeln eines kleinen Wasserlaufes, eine Mücke, das Knistern des Mooses, auf dem man liegt - das ist die wunderschöne Stille, für die sich die größte Anstrengung lohnt. Stille ist Luxus. Und wenn es wirklich einmal ganz still werden sollte, hört man sich selbst. Also ist es nie still.

Nach etwa fünf Stunden hatten wir die Hornsjøhøe überwunden und wir wußten, daß jetzt nur noch ein steiler Aufstieg zur Sletthøe zu bewältigen war. Danach sollte es dann noch einige Stunden immer bergab gehen. Wir waren sehr guter Dinge, denn es war bis dahin schon ein maximaler Tag für uns, mit viel Wind, mit ein wenig Regen, mit Sonne und einem absolut freien Rundumblick auf Rondane, Døvrefjell und - weit im Westen - auch auf Jotunheimen. Ja, wir waren sehr glücklich.

Kurz vor der Sletthøe konnten wir noch einen wunderbaren Blick zurück auf das Haverdalen werfen, dann standen wir, aus einem kleinen Tal aufsteigend, unvermittelt vor einem großen Schneefeld, welches eine mit Felsbrocken gefüllte Senke überbrückte. Wir machten eine Pause, untersuchten das Schneefeld nach aufgeweichten oder gefährlichen Stellen und hielten Ausschau nach der besten Möglichkeit, es zu überqueren. Dann stutzten wir - und wurden plötzlich ganz still. Es gab keine menschlichen Spuren auf dem Schneefeld. Wir sahen uns an und wußten unmittelbar, daß in diesem Jahr noch keiner diesen Weg gegangen war, und ihn vermutlich auch keiner mehr gehen würde, denn es war für norwegische Verhältnisse schon sehr spät im Jahr. Das Paradoxon von der unberührten Natur, die durch uns ja doch berührt wird, drängte sich uns auf. Wir waren tief ergriffen, als wir das Schneefeld überquerten.

Wenn man als einziger, also als erster und letzter in einem ganzen Jahr, einen Weg geht, der ohnehin als Weg kaum zu erkennen ist, und wenn man sich vorstellt, daß rechts und links des Pfades alles genau so aussieht, wie vor 100 oder 1000 Jahren, dann könnte man platzen vor Glück, oder still weinen. Stille, Einsamkeit, Unberührtheit. Vermutlich ist es das, was uns immer wieder nach Norwegen zieht, ja zieht und zerrt.



Erstellt: 23. August 2005 - letzte Überarbeitung: 23. August 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.