BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Amerikanische Bilder: Sechster Teil»
von Lisa Blausonne
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Ich fliege über das Hochgebirge „Sierra Nevada“, bin berührt von der Schönheit der Natur, die von oben so unangetastet aussieht, und lande in Las Vegas, das im Kern aus Hotels, Casinos und Showbühnen besteht, die sich – einer Perlenschnur gleich – entlang einer Hauptstraße reihen und bunt blinken. Rechts und links der Vergnügungs-Straße erstrecken sich hässliche Wohnviertel, in denen 1,7 Millionen Menschen leben. Die Hotels in Las Vegas muss man sich wie Themenparks vorstellen, die berühmte Orte kopieren: Der Eiffelturm steht im Hotel Paris, die Sphinx im Hotel Luxor und Manhattan im Hotel New York. Es sind auf der Straße kaum Menschen zu sehen; zu Fuß geht hier niemand. Eine unnatürliche, pulsierende Oase mitten im ansonsten verlassenen Nirgendwo. Der Kurzausflug nach Las Vegas erinnert mich vom ersten Moment an meinen Aufenthalt in Dubai, einer ebenso artifiziellen wie prosperierenden Stadt, ebenfalls in einer Wüste. Dubais Häuser wirkten auf mich im Vergleich noch moderner und glamouröser; wohingegen der Sandstaub, der sich in Dubai auf jede Oberfläche setzt, in Las Vegas fehlt.

Ich besuche Paul, der auf einer Konferenz ist. Paul nimmt sich Zeit, in der wir uns im Aquarium Riesenschildköten und Haie anschauen und gerade rechtzeitig an einem Hotel ankommen, das für seine Wassershow auf seinem Teich – das Wort künstlich muss in diesem Zusammenhang gar nicht erst erwähnt werden – berühmt ist. Dröhnend schallt „Viva Las Vegas“ von Elvis aus Boxen, die in den Bäumen hängen, zeitgleich beginnen hunderte, hochhaushohe Fontänen im Rhythmus zu „tanzen“. Ich muss unwillkürlich lachen. Hier wird eine Ausgelassenheit öffentlich dargestellt, ein Sieg über die Trockenheit der Wüste gefeiert und die Kraft einer Vision von Menschen glorifiziert, die das Unmögliche gewagt haben. Allerdings zu einem Preis, der inmitten des Spektakels übertönt und weggeschwemmt wird; eine Show jagt die andere, ein Superlativ ersetzt den nächsten. Angeboten werden Glücksspiele, Musicals, Zaubershows, Männer- oder Frauen-Strips, Konzerte, Varietés; daneben Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants.

Wir fahren in unser Hotel, dabei sehen wir Hochzeitskapellen aus Plastik. „Die Leute heiraten im Drive-In-Verfahren, als wenn sie Hamburger bestellen würden“, erklärt uns der Taxifahrer. Von unserem Hotelzimmer aus dem 21. Stock schauen wir direkt auf die Freilichtanlage des Nachbarhotels, in dem zweimal am Tag ein Piratenmärchen – begleitet von lautem Feuerwerk und Kanonendonner - aufgeführt wird. Unser Hotel simuliert die Kanalstadt Venedig: mit der Rolltreppe gelangen wir auf einen Marktplatz, auf dem Gaukler in mittelalterlichen Kostümen Kunststücke vorführen und in den nachgebauten venezianischen Häusern feinste Speisen serviert oder edelste Kleider angeboten werden; mit Touristen gefüllte Gondeln gleiten einen Kanal entlang. In dem künstlichen Venedig simuliert eine gespannte und angestrahlte Leinwand sogar einen zu jeder Zeit taghellen Himmel. Nach einem Aufenthalt in dem Gelände erschrickt der Besucher beim Hinaustreten, wenn bereits die „wirkliche“ Dunkelheit angebrochen ist. Ich gehe in die „Las Vegas Solomon Guggenheim Ausstellung“. Paul fragt mich skeptisch, ob die Bilder nur Replikat einer echten Ausstellung seien. Doch die Gemälde sind Originale von europäischen Malern; ich betrachte Mondrians Bild von einer einsamen Dünenlandschaft in Holland. Ach, ruhige Heimat. Abends gehen wir in die Vorstellung zum „Phantom der Oper“, das zweimal am Tag aufgeführt wird, und spielen danach im Casino Roulette.

Ich träume unruhig. Der Inhalt meines Traums hat nichts mit der Realität zu tun; ich träume, mein Freund verrate mir nach Monaten in Amerika, er sei süchtig nach Cola geworden und könne ohne regelmäßige Zufuhr des Zuckergetränks nicht mehr leben. Leider nimmt er dabei kontinuierlich zu, bis er fast zu platzen droht. Ich werde früh genug wach und verpasse zum Glück das Ende des Traums.

Die vielen Besucher in Las Vegas freuen sich über die Shows und Musicals und darüber, dass sie öffentlich spielen, trinken und rauchen dürfen, was ansonsten verboten ist. Mir ist diese Magie nicht zugänglich. Es ist kein Ort für uns, und wir verlassen Las Vegas am nächsten Tag wieder. Auf dem Weg zum Flughafen möchte ich etwas essen und werde beim nicht enden wollenden Angebot von Steaks und Pommes unruhig. Ich erwarte sehnsüchtig Restaurants mit lokalen Speisen, wie sie normalerweise nach den amerikanischen Fastfood-Ketten auftauchen, wenn ich irgendwo auf der Welt auf dem Weg zum Flughafen bin. Aber ich habe für einen Moment vergessen, wo ich bin: Dies sind lokale Speisen, wir sind hier, wir sind in Amerika.



Erstellt: 29. März 2008 – letzte Überarbeitung: 1. April 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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