BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Amerikanische Bilder: Zehnter Teil»
von Lisa Blausonne
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Ich verlasse das Haus sehr früh am Morgen. Es ist Freitag, halb 6. Noch ist es angenehm kühl. Ich atme die frische Luft tief ein, die vom Meer kommt – ich kann das Salz schmecken und den Seerobben- und Fischgeruch vom Pazifik erahnen. Ich halte auf der Treppe inne und schaue auf die zum Teil erleuchteten Fenster auf den Hügeln unserer Nachbarschaft. Das Viertel ist geprägt von bunten viktorianischen Holzhäusern mit ordentlich gepflegten Vorgärten, in denen Blumen jeder Farbe wuchern; es gibt eine Grundschule, viele Cafés, einen guten Bäcker, Einzelhandelsgeschäfte, einen Schneider, einen Schuster, einen Filmverleih und einen Supermarkt. Um diese Zeit sind die kleinen Läden noch dunkel. Ich nehme mein Rad und fahre durch die ruhigen Straßen, noch heult kein Feuerwehrauto, kein Hupen ist zu vernehmen. Zwei Polizeibeamte kommen schweigend mit ihrem Papier-„Coffee-to-go“-becher aus dem Starbucks-Café, ein Jogger überquert lautlos die Straße; es dämmert, die Stadt erwacht langsam. Ein Hund schnüffelt im Müll, der noch am Straßenrand liegt; gleich wird wie jeden Tag die Straßenreinigung kommen und den Abfall wegfegen. Ich fahre mit Schwung die Dolores-Straße, die von Palmen umsäumt ist, hinunter, um in das Mission-Viertel zu rollen. In dem etwas schäbigen Mission-Distrikt schlafen die vielen Obdachlosen noch, sie liegen fest eingeschnürt in ihren dünnen Decken vor den Hauseingängen der Läden, meist in kleinen Gruppen.

Um diese Zeit findet Freitags ein besonderer Kurs in dem Yogastudio statt, zu dem nur wenige engagierte Yogis kommen. Wir turnen die sogenannte „erste Serie“, wie dies Freitags weltweit bei allen Ashtanga-Yogis üblich ist, selbst bei denjenigen, die in ihrer Praxis weiter sind und normalerweise bereits die zweite oder dritte oder sogar vierte Serie turnen. Dadurch fühlen sich die Yogis verbunden; es passt zu ihrer Philosophie, dass letztlich jeder mit jedem und alles mit allem in Beziehung steht. Wenn ich um 8 Uhr nach dem Kurs zufrieden das Studio verlasse, ist es bereits hell und die Mission-Straße lebendig, Menschen warten in Schlangen vor der Bank und vor dem Sozialamt, Gruppen von Lateinamerikanern stehen in offenen Cafés und diskutieren auf Spanisch; Bauarbeiter versuchen, die Schlaglöcher in den Straßen zu ebnen. Es riecht nach feuchter, fauliger Erde; ein Geruch, den die Straßenreinigung hinterläßt. Die Obdachlosen liegen nicht mehr in den Eingängen; sie haben sich bereits unter das Volk gemischt und fragen nach Wechselgeld. Ich schlendere mit meiner Matte über der Schulter in den mexikanischen Saftladen, hier bekommt man zu jeder Tages- und Nachtzeit frischen Saft aus Karotten, Äpfeln und Apfelsinen, natürlich kommt das Obst aus Kalifornien. Während die schwarzhaarige, schöne Frau mit der Zahnspange den Saft zubereitet, schaue ich auf das überlebensgroße Bild von Frida Kahlo hinter ihr, daneben summen Ventilatoren über süßem Gebäck. Ich mag diesen einfachen Laden mittlerweile. In Deutschland hätte er wenig Chancen: Viel zu provisorisch wirken die Plastikstühle, viel zu unordentlich die verschiedenen Arten von Fußbodenbelag, viel zu gammelig die ungeputzten Scheiben der Auslageflächen.

Ich fahre mit dem Rad zurück nach Hause, trinke dabei meinen Saft-to-go, muß mich nun bergauf stärker anstrengen, sehe vor mir den orangenen Schulbus, der eine aufgeregte Horde junger Menschen zur Grundschule bringt und lächle den jungen Mann an, der wie jeden Freitag morgen um diese Zeit den Asphalt vor seinem Café mit Wasser abwäscht. Er nickt mir wie immer zu und sieht aus, als frage er sich, warum ich so früh mit so rotem Kopf und einer Matte durch das Viertel fahre. Ich nähere mich unserem Haus, gleich werde ich mich wieder an die Bücher setzen. Die Luft riecht nach Flieder und Rosmarin. Der warme Wind flattert durch mein Haar und mich durchströmt ein sehr klares Gefühl: Ich liebe diese Stadt.



Erstellt: 15. Mai 2008 – letzte Überarbeitung: 16. Mai 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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