BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ein karger symphonischer Tanz»
von Helmut Hansen
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Meine erste Beobachtung heute morgen war, das einer der Kroken (oder was auch immer der Plural von Krokus sein mag, Kroken klingt so schön spröde), die wir den Winter über im Keller gezogen haben, sich als Zwilling entpuppt. Ein gelber Zwillingskrokus. Wunderschön.

Meine zweite Entdeckung war eine Installation in Herne. Stellt euch vor, eine Künstlerin hatte dort einen ganzen Raum mit Buchstaben gefüllt. Wunderschön. Besonders gut gefiel mir ein Arrangement aus aufblasbaren Sesseln, die selbst wieder mit Buchstaben vollgestopft waren und die dazu noch auf einem Teppich aus Styroporbuchstaben standen. Ganz einfach und bedeutsam. Wenn es uns die Buchstaben nur immer so gemütlich machen würden, wie es dort den Anschein erweckte. Auf dem Heimweg war mir schon ganz leicht. Ich habe da so eine aleatorische Sumpfblumenästhetik: Es macht mich immer ganz froh, wenn ich plötzlich und unerwartet in all dem Unrat eine anmutige, sinnvolle Unterscheidung finde.

Wieder daheim schnappe ich mir den alten treuen Hund, um mit ihm das schöne Wetter zu teilen. Auf dem Weg ins Sprottental sehe ich, daß der Flohmarkt an der Universität gut gefüllt ist und beschließe, kurz darüber zu schlendern. Ich sehne mich schon lange nach diesen dünnen, übernatürlich hoch aufgeschossenen, zerbrechlichen und dabei ganz starken afrikanischen Jägerfigurinen, die Alberto Giacometti zu seinen Plastiken inspiriert haben. Aber ich bin natürlich nicht bereit, neo-kolonialistischen Kunsträubern für so etwas viel Geld zu bezahlen. Ihr ahnt es, an einem der Stände boten echte Afrikaner echtes afrikanisches Kunsthandwerk feil, daß sie allem Anschein nach auch nicht zur Schaffung von Mehrwert importiert hatten. Zumindest glaube ich, daß es Erinnerungsstücke aus der Heimat waren, die sie nach geglückter Integration abstoßen wollten. All meine Liebe fiel auf eine Komposition aus drei Männern, ca. 10–15 cm hoch und aus einem Stück gearbeitet. Sie machen sich unglaublich dünn, um ganz wenig Angriffsfläche für all die gespenstischen Dinge zu bieten, die sie umgeben. Glücklich war und bin ich, wenn ich die Figur betrachte, richtig glücklich.

Der treue Hund hat unterdessen geduldig gewartet. Da er mittlerweile ganz taub und fast blind und schwach auf den Beinen ist, hat er mir das sehr langsame Wandern beigebracht. So viel Zeit zum Verharren und Beschauen, daß die Zeit sich auflöst. Der Wanderer in Euch versteht das: Der Himmel in einem so kühlen Blau wie der Tag. Der kräftige Wind weht durch die Wipfel, die Wipfel knarzen im Ballett, die trockenen Blätter rascheln über den Boden, ein Bach flüstert und ein Specht auf der Suche gibt allem einen überfließenden Rhythmus. Ein karger symphonischer Tanz, an dem ich für einen Moment teilnehmen durfte. Fern alles Zagens, für einen Augenblick da und nicht das Gespenst sein, das sich bestenfalls nur wundern kann. Womit habe ich das verdient? Welcher Stern leuchtet mir heute?



Erstellt: 16. August 2000 – letzte Überarbeitung: 16. August 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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