BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entropie»
von Henriette Orheim
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Seit einigen Wochen schon las ich im Feuilleton verschiedener überregionaler Zeitungen viel Schönes über eine ‹neue Ära›, ja über einen ‹grandiosen Aufbruch› in einem Theater ganz in meiner Nähe. Die ‹Großkritik› ging sogar so weit, zu behaupten, der ‹Theatermittelpunkt› Deutschlands habe sich verschoben in diese kleine Stadt des Ruhrgebietes, die doch «von Arbeit ganz grau ist» (Herbert G.). Das wollte ich nun endlich selbst erleben und sehen, ob da was dran sein könnte, daß sich gleich ein ganzer Mittelpunkt verschiebt!? Gleichzeitig wollte ich diese Gelegenheit nutzen, um mir einen jüngeren, aber überaus interessant wirkenden Theaterwissenschaftler, den ich vor kurzem in Berlin kennengelernt hatte, mal aus der Nähe zu betrachten. So vereinbarten wir, gemeinsam – im Wochenabstand – in die vielgerühmten Vorstellungen zweier angesagter Stücke eines ‹zeitgenössischen Autors› zu gehen.

Ich war baff: Das Theater war wirklich restlos ausverkauft. Bestimmt weit über 1000 Menschen drängten sich in diesem schönen altertümlichen Backsteinhaus. Ich ging vor dem Beginn der Vorstellung mit dem interessanten jungen Mann, der es zu meinem Glück auch liebte, zu wandeln, zu schauen und sich zu zeigen, schon eine Weile plaudernd durch das Foyer, als dieser mich plötzlich fragte: «Chaos oder Entropie?» Natürlich freute ich mich sehr, daß ein gut aussehender und interessanter junger Mann seinem Ruf gerecht wurde und etwas Dunkles, aber doch offensichtlich sehr Kluges sagte. Nur war mir dies im Moment doch etwas zu dunkel. Ich überlegte ganz geneigt und angeregt, was er denn damit meinen könnte: Die vielen Leute, also die Enge, das ‹Crowding›? Die ‹Theaterlandschaft› allgemein? Die politische Lage, ganz abstrakt gesehen? Ich konnte das Rätsel so schnell nicht lösen, also fragte ich ihn einfach und er meinte, ich solle mal «meine Nase in den Wind halten». Sofort, unmittelbar verstand ich ihn. Eine unglaubliche Dichte und Schwere verschiedenster Parfums umwallte uns. Zwar war jeweils dasjenige des Theaterbesuchers oder der -besucherin, an dem oder der wir gerade vorbei wandelten, am intensivsten, doch im Hintergrund verwob und mischte sich diese Geruchsvielfalt zu einem olfaktorischen Inferno. Ich versuchte mich auf einzelne Parfums zu konzentrieren, doch da waren keine ‹Kopfnoten› mehr zu erkennen, und die Basisrichtungen waren längst im Geruchsall aufgegangen und aufgehoben. Ja, das Grundrauschen in meiner Nase war so stark, daß alle Unterscheidungen in meinem Geruchssinn aufgehoben schienen. Und das hatte eigentlich – so schien mir – wenig mit Chaos zu tun, mehr mit einem Gleichgewicht. Und das assoziierte ich mit, mit, ja genau, mit Thermodynamik, und deswegen sagte ich «Entropie!». Der interessante junge Mann blickte mich an, lächelte wirklich sehr intensiv – seine von einer Unzahl von Lächelfalten umgebenden Augen waren schlicht hinreißend – und schien sich über meine Antwort zu freuen. Überhaupt wurde es ein sehr netter Abend, nicht nur wegen des beeindruckenden Theaterstücks und der exzellenten Schauspieler und Schauspielerinnen.

Am nächsten Morgen sann ich noch ein wenig herum, kam auf eine wunderbare Idee, und überfiel meinen alten Freund und Mentor Johannes, mit dem ich im Café verabredet war, gleich mit der Geschichte vom vorigen Abend und mit dem, was ich mir für den nächsten Theaterbesuch ausgedacht hätte. Da er mit alten Weinen und neuen Ideen sehr leicht zu begeistern ist, freute er sich natürlich sehr über meinen Plan und versuchte mir noch einmal klar zu machen, was Entropie eigentlich sei. Gelegentlich kommt bei ihm der Lehrer durch, aber das stört mich nie. Johannes meinte also: «Stell Dir vor, Du hast einen leckeren Grießbrei gekocht und gießt nun Himbeeren mit Himbeersauce darauf. In dem Moment ist die Entropie niedrig. Rührst Du aber alles sorgfältig um, dann ist der Grießbrei rosa, und die Entropie hoch.» Tja, einfacher erklären kann es keiner. Aber ob es stimmt?!

Am Nachmittag rief ich ein paar Freundinnen an, mit großem Erfolg. Und da ich es aus dramaturgischen Gründen nicht länger verheimlichen kann, verrate ich nun meine Idee: Ich hatte mir vorgenommen, möglichst viele Parfumpröbchen, die einem ja in den diversen Parfumerien nach Einkäufen so zugesteckt werden, zu sammeln, sie zusammenzugießen und daraus einen Multimix zu machen: Ein Versuch in parfumesker olfaktorischer Entropie gleichsam. Es gelang. Am Vorabend unseres nächsten Theaterbesuches hatte ich genau sechsundzwanzig Fläschchen, Flakons und Mini-Sprühapparätchen zusammen (von ‹Chanel› bis ‹Sisheido›). Selbstverständlich waren auch «Herrendüfte» dabei (welch' ein Wort!). Ich benötigte eine ganze Weile, um die Pröbchen alle in eine leere Eau de toilette Flasche zu praktizieren. Besonders diese kleinen neumodischen Mini-Sprühfläschen waren in der Applikation sehr lästig. Aber dann war es soweit. Das Experiment konnte beginnen. Ich setze mich erst eine Viertelstunde in den Garten, um meine Geruchsnerven zu beruhigen. Dann ging ich wieder in mein ‹Labor› und sprühte mir ganz vorsichtig etwas von meinem Mix auf das linke Handgelenk. Ich wedelte ganz professionell ein wenig mit der Hand herum, wie ich das mal in einer Parfumerie gesehen hatte. Dann roch ich daran. Liebe Leute, es war umwerfend! Es war ein olfaktorischer Overkill! Ich war begeistert!

Am nächsten Abend war das Wetter ziemlich warm und freundlich und ‹mein› Theaterwissenschaftler erwartete mich bereits auf dem großen Platz vor dem Schauspielhaus. Er schien guter Laune zu sein und erfreut mich zu sehen. Da wir mittlerweile ‹on kissing terms› waren, begrüßte er mich sehr lieb mit einem Küßchen auf meine rechte Wange. Und es lief alles nach Plan, denn er stutzte, konzentrierte sich sichtbar, lächelte, wurde ernst, lächelte – ach, diese Mimikveränderungen –, näherte sein Gesicht wieder meiner Wange, schnupperte erfreulicherweise noch einmal ausführlich an meinem Ohrläppchen herum und sagte schließlich leise: «Entropie?» Tja, in dem Moment habe ich mich in ihn verliebt.



Erstellt: 30. April 2001 – letzte Überarbeitung: 30. April 2001
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