BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«S-Bahn»
von Anna Wiesengrund
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Der Tag beginnt. Ich sitze in der S-Bahn, höre über meine winzigen Ohrstecker Glenn Gould's Interpretation des Bach-Klavierkonzertes Nr. 1 in D-Moll und fahre vorbei an den in rosa Licht getauchten Denkmälern der Großstadt: Baukräne, Strassenschluchten, der Fernsehturm und die vielen Gebäude der ‹Hochkultur›. Ich denke unweigerlich an Caspar David Friedrich. So ungefähr hätte er wohl die Szenerie gemalt, wenn er in unserer Zeit gelebt hätte.

Meine Leidensgenossen und ich, die wir alle um 6:53 Uhr mit der S-Bahn raus auf's Land fahren, um unser täglich Brot und die anderen lebensnotwendigen Kleinigkeiten zu verdienen, sitzen verschlafen auf unseren Sitzen. Jeden Morgen finden sich in der vertrauten Atmosphäre im hintersten Abteil des Zuges dieselben Menschen ein, die alle ihren unterschiedlichen Gewohnheiten folgen. Ein blonder, adrett gekleideter Mann Mitte dreißig hat irgendwann einmal angefangen, mich jeden Morgen am Bahnsteig zu begrüßen. Und so nicken wir uns also in der Trübnis des geteilten Schicksals immer wieder freundlich zu und lächeln uns an, was uns in der Anonymität der Großstadt das Gefühl gibt, einander zu kennen. Keiner von uns beiden ist daran interessiert, so früh am Morgen mit dem anderen zu reden. Und doch sitzen wir nie mehr als drei Sitzbänke voneinander entfernt: Der blonde Mann liest die Zeitung und ich höre Musik. Das schützt mich auch, denn damit signalisiere ich den Mitfahrenden, daß ich nicht bereit bin, über das Wetter, den anstrengenden Job oder gerade angesagte ausbeuterische Eskapaden der Vorgesetzten zu sprechen.

Hier im Inneren der S-Bahn ist es seltsam warm, obwohl es schon November ist. Eine junge Frau neben mir liest einen Phantasy-Roman und hat nur ein Trägertop an. Weiß sie überhaupt, welches Wetter draußen ist? Wahrscheinlich nicht, denn das Wetter in der großen Stadt ist wirklich ‹entwirklicht› – die Abgase heizen die Stadt so auf, daß keiner mehr ein Gefühl für das ‹eigentliche› Wetter bekommen kann.

Der Zug fährt an immer kleiner werdenden Häusern, an Schrebergärten und alten Industriegeländen vorbei. Bald können wir sogar große Weiden mit Pferden und Kühen sehen, die friedlich grasend die Idylle bis ins Kitschige verzerren.

Während ich mir die Menschen ansehe, die jetzt so nach und nach den Zug verlassen, frage ich mich immer wieder gerne, wo sie wohl ihren Achtstundentag verbringen werden. Manchen sieht man an, daß sie etwas ‹Kreatives› machen, sie sind meist klassisch schwarz gekleidet und steigen auch noch an der Haltestelle «Medienstadt» aus. Toll! Ich hingegen achte mittlerweile nicht mehr auf meinen Kleidungsstil, da ich den ganzen Tag in einer weißen Arbeitskleidung herumlaufen werde. Das hat den Vorteil, daß ich früh morgens keine kognitiven Ressourcen mehr vor dem Spiegel verschwenden muß.

Um 7.40 Uhr steige auch ich aus. Bis dahin hat sich das volle Abteil soweit geleert, daß nur noch eine Frau darin sitzen geblieben ist: «Schrecklich, welche Strecke sie jeden Tag zurücklegen muß, um Geld zu verdienen», denke ich noch im Hinausgehen, um meine eigene Bürde ein wenig abzuwerten.

Beim Sprung auf den alten eingleisigen Bahnsteig atme ich tief die von Frühnebel und Kieferngeruch erfüllte Luft ein und schaue umher: Das Laub an den Bäumen changiert von Gelb bis Rot. Hier, auf dem alten Bahnsteig, kann ich mit allen Sinnen spüren, wie weit der Herbst eigentlich schon fortgeschritten ist. Hier erst ‹fühle› ich das Wetter, die – tja, wie soll ich es nennen – Natur und daß es außerhalb von uns Menschen noch etwas gibt, das uns umgibt, immer umgeben wird. Etwas Ewiges. Dieses Gefühl, nein dieser Gedanke eröffnet mir jeden Morgen einen unschätzbar positiven und erfüllten Beginn eines weiteren Arbeitstages.

Ich genieße noch ein wenig die Einsamkeit und gehe vom Bahnhof aus einen kleinen Schleichweg über Sandboden und Gräser, um mein ‹Karma› weiter aufzuladen. Und dann sehe ich auch schon – inmitten dieser Landschaft, die noch unberührt und eigentümlich verzaubert da liegt – das alte Klinikgelände. Heute morgen entdecke ich sogar ein Eichhörnchen, daß sich in unvergleichlicher Sicherheit an der rauhen Rinde der alten Kastanien entlanghangelt. Diese Kastanienbäume, die schon mindestens sechzig Jahren in dem großen Park des Klinikgeländes stehen, machen mir seit längerer Zeit Sorgen. Denn die großen fünffingrigen Blätter sind seit Juni rotbraun verfärbt und verrunzelt. Trügt mein Idyll ‹intakter› Natur? Seltsam, daß mich dies in diesem Moment nicht bekümmert. Ich gehe langsam weiter, Schritt für Schritt, einer Gangmeditation gleich.

Trotzdem komme ich irgendwann an der Tür zur Klinik an und muß ‹umschalten›. Aber in ein paar Stunden ist es ja wieder soweit, der Weg durch die Eichen und Eschen erwartet mich und vielleicht pflücke ich mir noch einen Zweig des bunten Laubes ab, um ihn zu Hause auf den Tisch zu stellen – in meiner Wohnung, in der entfernten großen Stadt.



Erstellt: 4. November 2002 – letzte Überarbeitung: 4. November 2002
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