BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Interieurs: Luisa»
von Henriette Orheim
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Judith schaltet die Spülmaschine aus und öffnet deren Tür. «Ich werde sie erst morgen früh ausräumen», sagt sie zu Harriet und geht mit ihr ins Wohnzimmer. Während Harriet, die Retriever-Hündin, sich mitten auf den Teppich legt, knipst Judith zwei auf der Fensterbank hinter dem Sofa stehende Lampen an und geht zur Terrassentür. Sie blickt hinaus in den dunklen Garten. Es ist Winter, und dennoch sind an den verschiedenen Rosensträuchern immer noch kleine verschrumpelte Knospen und Blüten zu sehen. ‹Rosen im Januar›, denkt Judith, ‹morgen werde ich aus den schönsten noch einen kleinen Strauß machen›.

Judith steht und träumt. Nach einer ganzen Weile erst wird sie durch das Schlagen der Standuhr im Wohnzimmer geweckt. Sie dreht sich um und sieht, daß es schon nach elf ist. Sie geht zu ihrem in der einen Ecke des Wohnzimmers stehenden Sekretär, öffnet die Klappe, rückt sich einen Stuhl zurecht und nimmt ihr Tagebuch aus der linken mittleren Schublade.

Sie schlägt es auf und liest nicht, was sie gestern geschrieben hat. Statt dessen schreibt sie ohne zu zögern: «Meine Enttäuschung ist sehr groß. Doch ich werde, wie ich es mir selbst versprochen habe, nicht die Banalität der Begebenheit wiedergeben. Ich möchte verstehen, was gestern los war. Wo kam die schwarze Wolke über uns her? Und wenn ich die Logik des weiteren Geschehens aus seiner so bedeutungslosen Anfänglichkeit heraus noch verstehe, möchte ich doch um so mehr Antworten auf die Frage suchen, wo der Sinn dieser plötzlichen Mißstimmung liegen mag. Gestern war doch ein so besonderer Tag, unser ‹Beziehungstag›, der Tag, der Abend, an dem alles vor vielen Jahren begann! Und ich habe mich auf diesen besonderen Tag auch ganz besonders gefreut. Doch alles ist schief gegangen. Es sollte ein Tag der Liebe werden, statt dessen haben wir uns entzweit. Nicht, daß wir uns gestritten hätten, oh nein, dazu achten wir uns zu sehr, aber wir haben uns voneinander entfernt und waren beide verstimmt, gereizt und unzufrieden. Warum nur? War das Datum überhöht? Hatten wir unausgesprochene Erwartungen, die wir uns gegenseitig nicht erfüllt haben?»

Judith blickt auf, zieht eine Schublade ihres Sekretärs auf und sucht etwas. Dann schiebt sie die Schublade wieder vorsichtig hinein und schreibt weiter: «Unzufrieden sein, nein, unglücklich sein, ist ja keine Kunst. Aber verstehen, warum derjenige, den man liebt, sich anders verhält, als man das erhofft, und verstehen, was man selbst dazu beigetragen hat, warum derjenige den man liebt, etwas tut, was einen schmerzt, das ist so schwer! Also fange ich bei mir an, was habe ich getan?» Judith denkt und schreibt.

Später piept Judiths Mobilphon, eine Nachricht: «Tote Zeit irgendwo am Lago Maggiore. Und in drei Tagen bin ich in Athen. Weißt Du eigentlich, wie gut Du es hast, Kleine? Gruß Karo»

Judith lächelt. Mit einem Mal fühlt sie sich warm und glücklich. Ach Karo, die stolze, schöne, kluge, leichtfertige Karo. Judith ruft sie sofort an. Karo freut sich sehr. Sie plaudern. Judith erzählt, daß sie gerade ein wenig traurig sei. Karo hört gar nicht richtig zu und sagt: «Ihr habt euch also gestritten? Du, mit Deinem Mann kann man sich doch gar nicht streiten! Der ist doch viel zu lieb. Und Du auch. Du verzeihst doch immer alles. Aber, Kleine, man darf nicht immer alles verzeihen! Ich sage Dir, mit einem Mann, dem man alles verziehen hat, ist man fertig!» Judith lächelt, sie ist ganz erfüllt von ihrer Zuneigung zu Karo und denkt: ‹Karo ist eben Karo! Die schnelle Karo. Die konsequente Karo. Wie viele Beziehungen hatte die konsequente Karo schon? Und ich? Wieviele Beziehungen hatte ich?› Dann sagt Judith: «Ach, Karo, ich bin so froh, daß ich Dich habe.» Sie plaudern noch eine ganze Weile.

Später, gegen Mitternacht, sitzt Judith immer noch vor ihrem Sekretär. Sie schreibt aber nichts mehr in ihr Tagebuch. In ihrem Kopf umkreisen und umspielen sich Assoziationen und Gedanken, aber sie kann sie nicht festhalten. Sie sucht einen Abschluß, eine Befreiung, eine Entlastung, sie versucht, zum Wort zu kommen, zu den Worten. Dann denkt sie plötzlich: ‹Unterschiedlich sozialisierte Wesen produzieren Unterschiede, die die unterschiedlich sozialisierten Wesen unterschiedlich treffen.› Judith lacht über die Banalität ihrer Wortgebung. Aber sie hat das Gefühl, als wäre sie einer Lösung nahe. Aber sie will jetzt nichts mehr genau erfassen, sie will nichts mehr analysieren und aufschreiben. Sie ist müde.

Judith hört, wie die Haustür aufgeschlossen wird. Harriet wacht auf und hebt mühsam den Kopf. Da Harriet aber an den Geräuschen sogleich erkennt, wer das ist, der gleich den Salon betreten wird, legt sie sich wieder hin und schlägt nur ein oder zwei Mal mit dem Schwanz auf den Teppich.

Luisa, die älteste Tochter, kommt langsam herein und schaut eine Weile zu Judith herüber. Dann wirft sie sich unvermittelt auf den Teppich, umarmt die gleichmütige Harriet und drängt ihr Gesicht tief in das Fell ihres Halses. Harriet und Luisa liegen ganz still. Auch Judith sagt nichts, sie schaut nur zu den beiden hinüber und wartet. Schließlich sagt Luisa in das Fell von Harriet hinein: «Du, Mami? Wie ist das eigentlich, wenn man jemanden wirklich liebt?»

Judith steht auf, geht zu Luisa, hebt sie vorsichtig vom Boden auf und schaut ihr ins Gesicht. Luisa ist ganz blaß, ihr Mund schimmert dunkelrot, ihre Augen sind groß, matt und müde. Auch ist ihr Augen-Makeup verschmiert und verlaufen.

Judith umarmt Luisa. Es ist ganz still. Beide hören nur, wie sie atmen. Luisa weint ein bißchen. Judith versteht und hält sie ganz fest. Nur Harriet kann sich keinen Reim darauf machen. Also steht sie gemächlich auf, schüttelt sich und stupst dann die beiden mit ihrem Kopf an.



Erstellt: 13. Januar 2005 - letzte Überarbeitung: 13. Januar 2005
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