BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Interieurs: Zwischenland»
von Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

– Für D. N. –

Es ist schon nach elf und völlig ruhig im Haus. Die Retriever-Hündin Harriet liegt schlafend auf dem dicken Teppich vor dem Sofa, und Judith sitzt an ihrem alten, dunklen Sekretär, der in der einen Ecke des Wohnzimmers steht. Sie streicht mit ihrer rechten Hand immer wieder über den dunkelgrünen Filz, mit dem die Innenseite des herunter geklappten Deckels ausgeschlagen ist. Sie träumt, sie besinnt sich, sie erinnert sich. Und während in ihrem strömenden Sich-bewußt-sein Bilder und Assoziationen ruhig auf einander folgen, überwältigt sie eine große innere Wärme.

Sie nimmt mit einem Mal ihr Tagebuch aus der linken mittleren Schublade des Sekretärs, legt es auf den Filz, sucht sich einen Bleistift und schreibt:

«Heute habe ich etwas gespürt, das mich auf der einen Seite schmerzte, auf der anderen aber auch eine Süße mit sich brachte, die mich in einen seltsamen Zustand der Liebe und Dankbarkeit der Welt gegenüber versetzte. Nein, nicht der Welt, sondern der Ordnung der Dinge in der Welt.

Am späten Nachmittag hatte Luisa wieder Flötenunterricht in ihrer Schule, die sehr schön, aber auch ziemlich einsam an einem weiten Feld und an einem Waldrand gelegen ist. Im Winter, wenn die Dunkelheit so früh einsetzt, mag Luisa nicht gerne alleine den weiten Weg von der Schule zur Bushaltestelle gehen und dann noch eine ganze Weile mit diesem fahren, um nach Hause zu kommen. Luisa, der großen, starken, frechen, lieben, ist es manchmal etwas mulmig dort am Abend an der Schule, also fahre ich sie hin und spaziere mit Harriet ein wenig im Schulgarten und auf dem Feld herum, und warte auf sie.

Heute war ein Tag vor Sankt Martin, in den Fenstern der Schule brannten Laternenlichter und zwei kleine Züge von Kindern waren im Wald unterwegs. Diese freudigen Kinderstimmen und dieser hüpfende Lichterwurm am Feldrand hatte etwas so friedvolles, ja, heiliges. Der dralle und üppige Mond stand riesengroß über dem Feld, es roch nach Laub und Erde, und im Garten der Schule klapperte sanft eine liebevoll hergerichtete Vogelscheuche. Ich betrachtete mir die vielen kleinen, säuberlich eingerichteten und abgeteilten Felder, und die Schilder auf den Beeten waren es, die mich so besonders anrührten: ‹Winterroggen, 3. Klasse›, ‹Winterroggen, 4. Klasse›, ‹Winterroggen, 5. Klasse›. Alles war so heimelig und wohl versorgt.

Ja, und da hatte ich dieses Gefühl von Endlichkeit und Vergänglichkeit, daß alles nur so kurz währt, so unmittelbar, und nicht zu halten ist. Daß Schönheit vergeht, daß unser Leben und Lieben gemessen an der Unendlichkeit des Himmels begrenzt ist und daß wir dennoch unser fließendes Leben lieben. Und da musste ich ein bisschen weinen vor Traurigkeit und vor Rührung und vor Glück. Ich fühlte mich so aufgehoben.
»

Judith legt den Bleistift beiseite und streicht mit ihrer rechten Hand wieder langsam und weich über den grünen Filz. Sie sucht ein Wort für dieses ‹Aufgehobensein›, sie weiß, daß ihr Denken an diesem Abend nicht zur Ruhe kommen wird, ehe es zum Wort gefunden hat. Sie steht auf, geht zur Terrassentür und schaut in den winterlichen Garten. Ein wenig Schnee liegt auf dem Rasen. Alles ist so vertraut. Der Aconit-Strauch und der Goldweiderich sind zwar verblüht, aber auf dem großen Rosenstrauch links von der Terrasse prangen immer noch viele orangen-farbene Blüten. Nur der zart lächelnde Buddha, der sonst hinten in der Ecke des kleinen Gartens steht, ist nicht mehr da. Denn den Winter über ruht er auf der Fensterbank im Wohnzimmer, die sich zum Garten neigt, mit dem Blick nach innen, in den Raum, zu den Menschen hin und zu dem Hund.

Judith schaut zum Buddha, und da erinnert sie sich plötzlich an eine Vorlesung, die sie damals zusammen mit Karo hörte. Da war ein Dozent, der am Ende seiner Vorlesungen immer etwas ‹Schöngeistiges› vorlas, auf das sie sich im Laufe der Zeit immer mehr freuten. Eines dieser Schmankerl handelte von einer Art Gegenwelt, einem Sanktuarium, und geschrieben hatte es ein, ja, genau, ein alter Biochemiker. Sie hatte sich damals, vor zehn oder zwölf Jahren, das entsprechende Buch besorgt und sich sehr gewundert, daß ein Naturwissenschaftler so schöne Sachen schreiben konnte.

Judith steht auf, geht zum Bücherregal auf der anderen Seite des Wohnzimmers und findet das Buch auf Anhieb: Erwin Chargaff, Alphabetische Anschläge. Eine Weile blättert sie herum, und dann, unter dem Buchstaben ‹Z›, findet sie endlich, wonach sie gesucht hat, das Wort ‹Zwischenland›:

«Zwischenland, eine allegorische Landschaft, darin manche Menschen aus rätselhaften Gründen sich hie und da aufhalten dürfen. […] Wer zuweilen im Zwischenland leben darf, verläßt es niemals ganz. Es ist, als lebte er, glücklich gespalten, in zwei Welten. Er wirkt in einer, der Außenwelt, aber wenn er einen festeren Halt braucht als den Boden der Erde, so findet er ihn jederzeit. Für ihn ist das Zwischenland die Gegenwelt. […] Der einzelne trifft den Eingang, wenn er ihn braucht. Mitten in den Bedrängnissen des täglichen Lebens erfaßt ihn der Gedanke – ist es eine Erinnerung? –, daß es etwas Höheres gebe. In den Nöten der Welt, in dem Elend der Zeit, wann immer dem Herzen weh ist, weht ihn plötzlich die Luft der Kindheit an; immer ist es Frühling, und es kommen schon die Blätter.»

Judith kehrt zu ihrem Sekretär zurück, nimmt noch einmal das Tagebuch und liest, was sie eben geschrieben hat. Sie hat Tränen in den Augen. Die wenigen Sätze von Chargaff haben sie genau so tief getroffen, wie damals in der Vorlesung. Sie erinnert sich, daß selbst die muntere Karo beeindruckt war.

Judith träumt. Und während in ihrem fließenden Bewußtsein Bilder und Assoziationen ruhig aufeinander folgen, kristallisiert sich ihr Gefühl von Endlichkeit und Vergänglichkeit in diesem einen Wort: ‹Zwischenland›. Sie fühlt, daß man, um traurig über die Vergänglichkeit von Schönheit und Ordnung sein zu können, erst einmal Schönheit und Ordnung erleben muß; sie spürt, daß Schönheit, Ordnung und Trauer unmittelbar miteinander verknüpft sind, und daß nur im ‹Zwischenland› alles Schöne ewig währen kann. Und da fällt ihr ein, daß ein befreundeter Künstler sein gerade abgeschlossenes neues Werk ‹Systeme der Ordnung und der Trauer› genannt hat, und sie fühlt sich ihm sehr nah. Sie weiß jetzt, daß auch er das ‹Zwischenland› kennt und ihm die Gnade gewährt wird, es ab und zu betreten zu dürfen. Und dann denkt sie, wie tröstlich doch dieser Gedanke an eine Obhut, ein Behütet-, ein Bewahrt-, ein Aufgehobensein ist. Und sie spürt: Wer sich aufgehoben fühlt, kann nicht fallen gelassen werden.

Judith träumt. Doch Harriet hat gerade den Kopf gehoben und blickt zur Wohnzimmertür. Dort steht Judiths Mann. Langsam geht er auf Judith zu und legt seinen Kopf von hinten in ihre Halsbeuge. Judith drückt ihre Wange an die seine und hält ihn mit ihrer linken Hand ganz fest. Nach einer Weile fragt er: «Wo bist Du?» Und Judith sagt: «Im Zwischenland.»

Nach einer weiteren langen Weile wenden sie ihre Gesichter einander zu, schauen sich lächelnd an und küssen sich.



Erstellt: 8. Dezember 2008 – letzte Überarbeitung: 11. Dezember 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.