BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Über das Jungsein (2)»
von Albertine Devilder
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Für H. und B.

Nach längerer Zeit besuchte ich endlich wieder einmal einen alten Freund, mit dem zusammen ich einst in Göttingen studierte und mancherlei erlebte. Mein Freund lebt immer noch dort, in einem schönen, großen Atelier am Nikolausberger Weg, mit einem alten, verzierten Kachelofen, vielen Bildern an den Wänden, einem großen Arbeitstisch – und einer Tochter, Birke, sechs Jahre alt, die ein zusätzliches kleines Zimmer bewohnt.

Birke ist ein ziemlich großes, dünnes, sehr selbstbewußtes Mädchen, das eine unglaubliche Lebendigkeit und Lebensfreude ausstrahlt; nebenbei spricht sie ununterbrochen, was ich schon immer hinreißend fand. So war ich sofort von Birke begeistert, verstand mich gut mit ihr, und freute mich sehr über die symbiotische Beziehung zu ihrem Vater. Irgendwann schlug ich vor, einen Abend lang die Babysitterin zu spielen, damit mein Freund endlich einmal einem lange aufgeschobenen Theaterbesuchswunsch nachgeben konnte. Es klappte, es gab noch Karten, und plötzlich war ich mit Birke allein im Atelier. Natürlich hatte sie erfolgreich mit ihrem Vater ausgehandelt, daß sie auf Grund der ‹besonderen Umstände› eine Stunde länger aufbleiben durfte.

Zunächst bereiteten wir zusammen ein kleines Abendessen. Da Birke gerne Nudeln mochte, zeigte ich ihr, wie man für eine Nudelsauce schnell und einfach einen toskanischen Grundsud zubereitet, mit frischen Tomaten ergänzt und mit Kräutern abschmeckt. Klar, das war ein pädagogischer Eingriff von mir, eine instruktive Interaktion, schließlich wollte ich ihr klar machen, daß man auch ohne die fertigen Nudelsaucen auskommen kann. Birke nahm das gelassen hin, sah mich wohl etwas seltsam an, machte aber mit, vermutlich aus einer unerschöpflichen Neugier gegenüber der Welt heraus.

Nach dem Essen bat sie mich, ihr eine ihrer Lieblingsgeschichten vorzulesen. Das gefiel mir sehr. Wir setzten uns also in die Ecke eines großen roten Sofas, und ich las ihr eine Geschichte vor von einem ziemlich großen, dünnen, sehr selbstbewußten Mädchen, das eine unglaubliche Lebendigkeit und Lebensfreude ausstrahlt und nebenbei ununterbrochen spricht und plaudert. Es war eine schöne Geschichte, und gegen deren Ende tauchte gar eine gute Fee auf und verkündete, das Mädchen habe drei Wünsche frei und es könne sich wünschen, was auch immer es wolle. An dieser Stelle erhöhte sich Birkes ohnehin gespannte Aufmerksamkeit noch einmal um ein merkliches Quantum.

Als erstes wünschte sich das große, dünne, sehr selbstbewußte Mädchen in der Geschichte eine Krone. Ich sah Birke an, sie lächelte. Als zweites wünschte sich das Mädchen in der Geschichte ein rosa Kleid. Ich sah Birke an, sie lächelte. Und nun hatte ich wieder einmal einen ganz und gar ‹erwachsenen›, pädagogischen, übergriffigen Impuls und sagte zu Birke, also, wenn ein Mädchen drei große Wünsche frei habe, und sich alles wünschen könne, was es sich wünschen mag, und dann sich eine Krone wünsche und dann noch ein rosa Kleid, ja, um Himmels Willen, ob es denn nichts wichtigeres, wesentlicheres, entscheidenderes gäbe, was man sich wünschen könne, und überhaupt, zwei Wünsche wären ja jetzt schon verplempert ...

Birke stimmte mir aufrichtig empört zu: «Ich hätte mir ein blaues Kleid gewünscht.»



Erstellt: 22. April 2009 – letzte Überarbeitung: 23. April 2009
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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