BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Signa, oder die 120 Tage von Sodom (2): Minima Moralia»
von Stefan Bärnwald
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«Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!»
(Dante Alighieri)

Die Villa Salò durchweht der diskrete Charme eines in die Tage gekommenen Etablissements. Neu eingetroffene Gäste des Bordells warten an einer Festtafel auf ihre Einweisung durch die erste Dame des Hauses, die anbetungswürdige Mme. Vaccari. Den Neuankömmlingen wird die Ehre zuteil, die Wartezeit von Herrn Curval, dem Magistrat persönlich, verkürzt zu bekommen. Der Magistrat ist ein sehr attraktiver, gebildeter und in allen Künsten beheimateter Gastgeber. Mit ihm lässt es sich in ruhigen Momenten bei einem guten Glas Wein auf das Vortrefflichste über alle menschlichen Abgründe und der ihr gewidmeten Literatur parlieren. Heute ist der Herr Magistrat in Spiel- und Experimentierlaune. Er führt eine kleine Untersuchung durch, bei der ihm ein studierter Akademikus der Lebenswissenschaften mit eingestreuten Stichworten und kurzen Exkursen in die Psychologie und die Philosophie assistieren darf.

Der Herr Magistrat bestellt eines der Mädchen zu sich, um sie den neugierigen Augen der Festtafel vorzuführen. Als ein wohlgeformtes Stück Fleisch präsentiert er die üppige Schönheit in all ihrer Blöße. Den Gesichtern der neuen Besucher ist ein anschwellendes Unwohlsein deutlich zu entnehmen. Herr Magistrat fragt freundlich in die Runde, wer von den Besuchern denn nun Mitleid mit dem Kind habe, das sich da so vorführen lassen müsse. Die eingeschüchterten neuen Besucher reagieren zögerlich. Antworten erschöpfen sich in Floskeln, was dem Herrn Magistrat ganz offensichtlich nicht zupass kommt. Mit leicht, aber spürbar gestiegener Erregung beginnt er das verängstigte und nun vor Schmerzen schreiende Mädchen zu geißeln.

Misshandelt der Herr Magistrat in dieser Szene eine Schauspielerin, die ihre Rolle frei gewählt hat, oder schimmert da durch die Darstellerin hindurch nicht vielleicht doch die Verletzlichkeit einer gedemütigten jungen Frau? Und welche Antwort erwartet der Herr Magistrat von den neuen Besuchern, die ihre eigene Position in der Villa Salò noch nicht gefunden haben? Sind wir schon im Spiel, oder ist das noch die Realität? Sind wir schon in der Realität, oder ist das noch das Spiel? Und wo, bitte schön, liegt die Grenze zwischen diesen beiden? Gibt es diese Grenze überhaupt? Und falls ja, wie wäre sie zu bestimmen?

Der Herr Magistrat wendet sich noch einmal an seine Versuchspersonen, um den Grad ihres Mitgefühls nach dieser schmerzhaften Manipulation seines Versuchsobjektes zu messen. Die Hände der Festtafel recken sich unverzüglich in die Höhe. Jawohl, es besteht einhelliges Mitleid. Einige Besucher fordern nachdrücklich, diese Misshandlungen einzustellen, das würde ja richtig wehtun, das wäre doch zu sehen, und das ginge so wirklich nicht und wir wären doch zivilisierte Menschen. Der Herr Magistrat ist von diesen Reaktionen nun ganz deutlich amüsiert, und fragt in aller Höflichkeit, ob er das Mädchen wirklich schonen solle. Die Neuankömmlinge stimmen dem erleichtert zu. Der Herr Magistrat wendet sich freundlich an das Mädchen und eröffnet ihr, dass er sie nun auf Geheiß der Neuankömmlinge schonen wolle, worauf hin er sich in einen größenwahnsinnigen Furor kreativer Aggression steigert, der nach einem wilden analen Missbrauch schließlich im Dadaismus mündet, wenn der Herr Magistrat die Ursonate aus Leib und Seele des gequälten Mädchens herausquetscht.

Der Gewaltausbruch des Magistrats führt den Besuchern in aller Deutlichkeit vor Augen, wer in diesem Universum regiert. Es herrscht das Recht der Stärksten, und jedes Bemühen um Gnade und Erbarmen dient im schlimmsten Fall sogar noch als Sprungbrett für die Steigerung der zynischen Exzesse der Herrschenden. So erteilt der Magistrat dem Publikum eine präzise Lektion in Moralphilosophie. Ganz im Sinne Nietzsches werden Mitmenschlichkeit, Mitfühlen und Mitleid als Elemente einer Sklavenmoral entlarvt, die alleine zu dem einzigen Behufe erfunden wurde, die Schwachen vor den Starken zu beschützen. In einem von der Moral bereinigten Universum – wie der Villa Salò – ist jede Lebensäußerung der Willkür der Herrschenden unterworfen.

Der Herr Magistrat ist damit schließlich sehr befriedigt von sich und seiner pädagogisch, wie auch wissenschaftlich und künstlerisch wertvollen Darbietung für die Neuankömmlinge. Er entlässt das zerbrochene und am ganzen Körper mit Striemen gezeichnete Mädchen, um sich mit Kusshand von seinem Publikum zu verabschieden. Für die um einige Lebenserfahrungen bereicherten neuen Besucher ist die Wartezeit nun endlich vorbei.

Mme. Vaccari bittet zum Empfang, um die neuen Gäste in die Hausordnung einzuweisen.



Erstellt: 21. März 2010 – letzte Überarbeitung: 23. März 2010
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