BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Signa, oder die 120 Tage von Sodom (3): Kalte Sterne»
von Stefan Bärnwald
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«Die Erotik ist im Bewusstsein des Menschen dass,
was das Sein in ihm in Frage stellt.»
(Georges Bataille)

Wie überrascht und beglückt der innerlich bebende Gast ist. Ein Privatissimum, allein, Angesicht zu Angesicht, allein, allein mit Ihr, mit Euch, Mme. Vaccari. Mme. Vaccari, Mme. Vaccari. Angebetete Mme. Vaccari. Wenn ihr nur eine Ahnung davon hättet, wie gut ich Euch verstehe, Mme. Vaccari. Wenn es keine Anmaßung wäre, das falsche Wort von der Seelenverwandtschaft würde ich an Euch richten. Ein Herz aus Finsternis, das uns vereint, Mme. Vaccari.

Mme. Vaccari, Mme. Vaccari, wie tief mich Eure Verzweiflung berührt. Immer und immer wieder, und immer wieder, über Tage und Wochen und immer wieder die Einweisung der Uneingeweihten in unser dunkles Universum, das nur Vernichtung kennt. Tagaus, tagein, immer und immer wieder die herz- und hirnlosen Massen, die zu Euch strömen, Mme. Vaccari. Die Euch nicht zuhören, weil sie Euch nicht verstehen können, die Euch nicht verstehen wollen, Mme. Vaccari. Weil das Wissen, das Ihr in Euch tragt, dieses Wissen, das Euch verzehrt, Mme. Vaccari, weil Euer Wissen diese seelenlosen Geschöpfe zerstören würde. Ihr könnt Ihnen einhundert und noch einmal einhundert mal sagen, unsere Worte seien nichts als ein Nebel in einem kreisenden Nichts. Sie werden Euch nicht hören, Mme. Vaccari. Weil sie keine Ohren haben, um Euch zu hören, Mme. Vaccari. Hier, und in diesem Augenblick, sitzt ein Einzelner vor Euch, Mme. Vaccari. Ich höre Euch. Ich höre Euch, und ich gehöre Euch, Mme. Vaccari.

Ich höre Euch, Mme. Vaccari. Diese Sinnlosigkeit, diese Hoffnungslosigkeit, diese bleierne Schwere, und in all dem strahlend: Eure Würde und Eure Schönheit, Mme. Vaccari. Nein, und noch dreimal Nein, Mme. Vaccari. Nein, diese Unruhe in meinen Fingern, das nervöse Tippen meiner Fingerspitzen, es ist kein Zeichen meiner Unaufmerksamkeit, Mme. Vaccari. Jede Faser meiner Nerven drängt zu Euch, Mme. Vaccari. Die extremsten Extremitäten meines Körpers, die Spitzen meiner Finger, sie sind meiner Kontrolle entglitten, Mme. Vaccari. Ihr sanftes Tippen auf meinem Schenkel ist der einzige äußerliche Ausdruck eines Bebens, das mich tief in meinem Innern erschüttert, Mme. Vaccari.

Oh Eure Anwesenheit, Mme. Vaccari, Eure Präsenz und Euer ermattender Glanz, der diesen Raum durchleuchtet, Mme. Vaccari. Wie dankbar und in Demut ich in den letzten Strahlen Eurer untergehenden Sonne bade, Mme. Vaccari. Wie sehr ich zu Euch dränge, wie sehr ich Euch in die Arme schließen möchte, Mme. Vaccari. Zwei Sterne, ihre Bahnen für einen zeitlosen Augenblick kreuzend, in einem erfrierenden Universum. Wie ich Euch in die Arme schließen möchte, Mme. Vaccari.



Erstellt: 21. März 2010 – letzte Überarbeitung: 23. März 2010
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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