BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Signa, oder die 120 Tage von Sodom (6): Zerstreute Obszönitäten» von Stefan Bärnwald
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«Die Aufgabe (...) eine Art experimentelle Pathologie der Schauspielkunst zu liefern,
stößt auf größte Schwierigkeiten, und ich muss schon jetzt um Entschuldigung bitten,
wenn ich bei ihrer auch noch so skizzenhaften Durchführung sehr enttäuschen sollte.»
(Egon Friedell)

Ein vereinfachendes Verstehen der Vorgänge in der Villa Salò ginge vermutlich so: Der Mensch dem Menschen ein Wolf; Zivilisation eine Erfindung zur Befriedung des Krieges aller gegen alle; auf welche Seite sich das herausgeforderte Subjekt stellt, ist letztlich nur eine Frage von Stärke und Geschmack: Der Stärkere genießt seine Überlegenheit oder bepudert sein narzisstisches Ego mit moralinsaurem Helfergetue. Der Schwächere sucht Schutz unter dem Schirm von Ethik und Moral, um schlimmstenfalls seine Rolle als verfolgte Unschuld zu instrumentalisieren.

Bei näherer Betrachtung ist die ganze Geschichte aber wohl doch ein wenig komplexer, vielschichtiger und verwobener. Daher erlaubt sich dieser unabgeschlossene Text einen Griff in die Mottenkiste postmoderner Narrationsstile, um lieber erst gar nicht mehr zu erzählen, also zumindest nicht am geraden Stück. Statt dessen wird das letzte Grollen des abziehenden Assoziationsgewitters in einem Geflecht loser Fragmente eingefangen – auf daß es, als hoffentlich gutartige Neubildung, im Erkenntnisapparat der geneigten Leserschaft weiter vor sich hin wuchere.

Wo immer ein solcher vorhanden sein mag.

  • The Imaginarium of Dr. Parnassus.
    Film von Terry Gilliam, 2009. Besucher betreten das Imaginarium im Glauben, eine Vorführung zu erleben. Das Imaginarium bietet aber keinen Varieté-Hokuspokus, sondern ein ‹reales› immersives Environment, erschaffen aus den innersten Träumen und Ängsten des Gastes, der in das Imaginarium eintritt. Hinter dem Vorhang also keine gemütlich zu konsumierende Repräsentation, sondern unvermittelt herausfordernde Wahrheiten, die den Einsatz des ganzen Subjekts erfordern. Konfrontation mit unserer Wirklichkeit, jenseits ihres Vorhangs aus schönem Schein. Allerdings: Wirklichkeit nicht als hinterweltlerische Dazuerfindung im Sinne Nietzsches. Im Imaginarium offenbart sich eine durch und durch wirkliche Illusion – und markiert damit den Fluchtpunkt jeder Philosophie und ‹Weltanschauung.› Große Kunst.

  • Repräsentation.
    Doppelfunktion des Spiegels: Selbsterkennung und -entzweiung. Wird er zerschlagen, findet sich dahinter zumeist nur eine Wand. Wird hinein getreten, eröffnen sich manchmal Welten. In der Regel aber besser zerschlagen.

  • Obszönität.
    Entblößt, was wir nicht sehen wollen. Damit wäre das Obszöne Fundament jedes ehrlichen Strebens nach Erkenntnis.

  • Anti-Repräsentationalismus.
    Aufhebung der Distanz das Ziel jeder bemerkenswerten Aktionskunst, entsprechend die antirepräsentationalen Strategien der 60er und 70er Jahre: Negative Berührung durch Angst, Schmerz, Ekel, Schock. In physiologischer Unmittelbarkeit immer feste in die Magengrube, um ästhetische Distanzierung unmöglich zu machen. Villa Salò – zumindest in Aspekten – eine Wiederbelebung dieser Tradition.
    Remix 2010: Ein Magistrat experimentiert mit einem antiquierten Elektrotherapie-Gerät am Penis eines Kindes. Bei adäquater Applikation der Stromstöße Kürzung des Gliedes von 19 Zentimetern auf 6 Zentimeter in 10 Sekunden. Betäubung bzw. Beschädigung der Schwellkörper auch bei anschließender oraler Stimulation durch Mme. Maggi nicht zu beheben.

  • Liebe.
    Physiologische Erregung plus externale Attribution der Ursache (Grundkurs Sozialer Konstruktivismus 1a).

  • Schiller.
    Die Weltweisen: «Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammen hält, erhält sie das Getriebe durch Hunger und durch Liebe.» Einstweilen?

  • Psychopathia sexualis.
    Krafft-Ebing: «Wer die Psychopathologie des sexuellen Lebens zum Gegenstand (...) macht, sieht sich einer Nachtseite des menschlichen Lebens und Elends gegenübergestellt, in deren Schatten das glänzende Götterbild des Dichters zur scheußlichen Fratze wird und die Moral und Ästhetik an dem ‹Ebenbild Gottes› irre werden möchten.»

  • Tragödie.
    In der Regel kathartische Funktion. Unter entgöttertem Himmel und befreit von humanistischer Hybris – Reinigung wovon und wozu? Villa Salò, verstanden als eine um kathartische Schlusspointe bereinigte Tragödie. Zeitgenössische Kunst im Wortsinn.

  • Verbildete Kunst.
    Zähmung und Sublimierung unmittelbarer Lebensäußerungen; bis zum Herz- und Hirntod.

  • Identität.
    Einheit der Person. Schnarch.

  • Angenehmes Grauen.
    Aushalten einer Bedrohung; im Idealfall Vorstufe zum Erhabenen. Extremsport für Unsportliche, sozusagen. Peter Sloterdijk: «Gefahr und Höchstform gehören zusammen.»

  • Affekt.
    Gefühl = Physiologische Erregung plus begriffliche Fixierung. Gefühle insofern wirksam, aber nicht wirklich (Grundkurs Sozialer Konstruktivismus 1b).

  • Wiener Aktionismus.
    Radikalster Angriff auf Repräsentation und Person. Blut, Kot, Urin, Sperma gegen die Tabus, die Gesellschaft konstituieren. Sichtbarmachung unsichtbarer Herrschaftsstrukturen. Revolte gegen den erzogenen und sozialisierten Körper mit seinem Ich, in dem sich Herrschaft ereignet. Selbstvergewaltigung als Selbstzweck.
    Rudolf Schwarzkogler: «Der Wille frei zu sein». Herrmann Nitsch: «Daseinsjubel.» Otto Mühl: «Sadismus, Aggression, Perversität, Geltungstrieb, Geldgier, Scharlatanerie, Obszönität, Senkgrubenästhetik sind die moralischen Mittel gegen Konformismus, Naturalismus, Dummheit.» Günther Brus: «Ich führe in meine Harnröhre Stacheldraht ein und versuche durch leichtes Drehen den Nerv zu reißen (Autosystoskopie).»

  • Schock.
    Reine Differenzerfahrung.

  • Distanz.
    Erlaubt, auch das Furchtbarste ästhetisch zu genießen. Gerne in den Abendnachrichten, der Tageszeitung oder in literarischen Rückblenden.

  • Mme. Maggi.
    Bislang nicht ausreichend gewürdigt. Hiermit: Schönste Transsexuelle diesseits des bekannten Universums. Zwilling des Dionysos, damit Sinnbild schöpferischer und zerstörerischer Polysexualität.

  • Kunst der Revolte.
    Auflehnung als kreativer Impetus, ohne idealistische oder utopische Gespinste. Kartographie des Nichts zwischen den Schleiern.

  • Schmerz.
    Gibt, zumindest theoretisch, das Innerste preis; zumeist in Form unartikulierter Schreie.

  • Identitäten.
    Selbstvervielfältigung als Prinzip und Instrument. Transformation in proteische Personentexte mit Gestaltungs- und Anschlussfähigkeit. Etwas zu viel verlangt, zumindest auf Dauer.

  • Gut & Böse.
    Friedrich Nietzsche: «Ob jemand zu den Guten oder Bösen gehört, das liegt durchaus nicht an seinen Handlungen, – sondern an seiner Meinung über diese Handlungen.» (Grundkurs Sozialer Konstruktivismus 2)

  • Moral.
    Linie von Hasan-i-Sabbah, Zarathustra, Brion Gysin bis William Burroughs, unisono im Chor: «Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.» Soweit sicher richtig, aber was folgt daraus für die Lebenspraxis? Hedonistischer Terror; Tugend als ultimatives Verbrechen; postmoderne Beliebigkeit; diktatorische Weltherrschaft; Gelassenheit? Bitte ankreuzen.

  • Tugend.
    Wahrscheinlich das große Verbrechen, nachdem alle Regeln gebrochen sind. Wenn alles Lüge und Schein ist, keine Instanz Gut & Böse trennt, dann ist die Tugend das letzte verbliebene Laster (zu Lebzeiten zurück gehaltene Gedanken aus Nietzsches Nachlass). Der sich selbst transparente und reflektierte Gutmensch als der wahre Übermensch? Gute Idee.

  • Selbsttransparenz.
    Konrad Paul Liessmann: «Damit der Mensch Achtung vor sich selbst haben kann, muss er erst einmal zu einem halbwegs unverstellten Bewusstsein seiner selbst gelangt sein. Und er wird zu diesem nicht gelangen, wenn er nicht auch jene verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis gekostet hat, die ihm überhaupt erst schmerzhaft seine Differenz zur Welt und seine inneren Abgründe signalisieren: die Freude an der Lüge, die Lust am Hässlichen und den Hang zum Bösen.»

  • Opfer/-rolle.
    Bedauerlich, mit größtem Mitgefühl und Respekt zu behandeln. Status gerade deswegen gerne überbeansprucht, weil Immunität im Falle eigener Bösartigkeiten. Bequeme moralische Hängematte, mit dem Finger immer schön von sich weg zeigen.

  • Orgien-Mysterien-Theater.
    Analytischer Abstieg in unbewusste vegetative Bereiche.
    Remix 2010: Zeremonienraum Villa Salò, nächtliches Tableau Vivant aus a) einem Christus-Kind in einer Blechwanne als Krippe b) drei weitgehend entblößten Besuchern als die heiligen drei Könige sowie c) diversen nackt auf dem Boden knienden und kriechenden Gästen mit Fellen, Tierkadaverköpfen oder anderen Utensilien als Tier-Imitatoren. Gaben der heiligen drei Könige an das Christuskind: Blut, Kot und Sperma, salbungsvoll ergossen über Stirn, Gesicht & Körper des Kindes. Ziemliche Sauerei. Anschließende drastische Bestrafung der verantwortlichen Dame des Hauses sowie des Christus-Kindes wegen Unzufriedenheit mit geringem künstlerischem Wert des Tableau Vivant. Stiller Widerspruch des Esels.

  • Naturalistischer Fehlschluss.
    Selbst wenn es eine Natur der Dinge gäbe, wieso sollte daraus ein Imperativ für das Verhalten abgeleitet werden? Das Paradox der Libertins de Sadescher Färbung: Freiheitsstreben bei Unterwerfung unter ‹Naturnotwendigkeiten›. Auf halber Strecke stecken geblieben, sozusagen. Siehe auch Marquis de Sade.

  • Naturalistische Einsicht.
    Kein naturalistischer Fehlschluss ist es, den Menschen als ein dem Verderben ausgeliefertes Stück Fleisch zu betrachten.

  • Ästhetik.
    Nach wie vor die einzige Berechtigung für das Dasein.

  • Marquis de Sade.
    Seine monomanischen Obsessionen langweilen derart, dass sie beim Leser den libidinösen Strom zum Erliegen bringen. Gigantisch dagegen die sporadischen Ausbrüche gegen die Natur, die Revolte gegen das Sein, galaktische Verwüstungsorgien. Nicht präpotente Selbstbefriedigung mit einem naturalistischen Fehlschluss als fauler Ausrede, vielmehr vernichtende Selbstzerstörung des fauligen und verderbenden Universums.
    Das ist Libertinage.




  • Erstellt: 20. April 2010 – letzte Überarbeitung: 21. April 2010
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