BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Plausible Plotlinien: Dilemma»
von Edna Lemgo
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«Once she would have despised herself
for accepting her situation so passively,
but she was now beyond any real self-judgment,
for no criteria were valid by which to assess herself.»
(James Graham Ballard, The Reptile Enclosure)


Selbstverliebt. Und Oma? Was wenn Oma es lesen würde? Sie würde sich in Grund und Boden schämen. So, wie sie sich in Grund und Boden schämt, wenn ihr der Kuchen misslingt. Der Kuchen, auf den sie früher immer so stolz war. Weil die Enkelin ihn so gerne gegessen hat. Heute? Kann sie einfach nicht mehr. Stattdessen belegter Tortenboden, zermatscht, verbutterte Sahne. ‚Es schmeckt dir nicht, oder?’ Wie traurig kann es werden? Artus meint, jemand, den er schätzt, hätte die Plotlinien gelesen und fände sie sogar gut. Weil niemand vorgeführt würde. Ja? Ist das so? Was, wenn Oma das hier lesen würde? Sie würde sich in Grund und Boden schämen. Sie würde nicht verstehen, dass es auch eine Liebeserklärung ist und eine Danksagung. Und kann etwas eine Danksagung und Liebeserklärung sein, wenn keine da ist, die sie vernimmt? Wenn die Geste zur Schande würde, in ihrer Welt? Es soll Menschen geben, die Gefallen an moralischen Dilemmata haben. Hier habt ihr eins. Und? Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Wenn Oma es verstehen könnte, meine Absicht verstehen könnte, dann vielleicht. Kann sie aber nicht. Nicht, weil sie steinalt ist und geistig nicht mehr auf der Höhe. Wie gemein es sich anfühlt, das nur zu erwähnen. Weil sie aus einer anderen Zeit, aus einer ganz, ganz anderen Lebenswelt stammt. Krieg. Nachkrieg. Einfachste Verhältnisse. Arme Verhältnisse. Heute würden sie sagen, bildungsferne Verhältnisse. Traditionelle Dorfstrukturen. Ehemann im Kirchenvorstand. Ganz, ganz eingeengter Denkstil. Im Sinne von Ludwik Fleck, also der kollektive Denkstil als den eigenen fest verinnerlicht. Und in diesem Tunnelblick klaustrophobisch gefangen. Ohne dabei auch nur zu ahnen, dass sie in etwas gefangen sein könnte, versteht sich. Das sehe nur ich so, mit meinem Denkstil, aus meiner arroganten und überheblichen Perspektive, versteht sich. Ludwik Fleck und die Denkstile sind mir gerade wieder begegnet, deswegen erwähne ich sie hier. Zwei (zwei!) mal im Ausland. Drei Tage Holland 1971. Zwei Tage Paris irgendwann. Sonst mehr so Besuche bei den Verwandten auf dem Land. Vergleich das mal mit uns und hier und jetzt. Ach ja, sorry, szenischer Kontext. Bringe ich den Teilnehmerinnen in meinem VHS-Kurs für Kreatives Schreiben ja selbst immer als erstes bei. Szenerie ist wichtig, damit sich die Leserinnen ein Bild machen können. Hatte ich vergessen. Also szenischer Kontext, wir und hier und jetzt. Sitze hier mit dem Laptop auf unserem Sofa. Vorher Redaktionssitzung im Stammlokal. Kürbis-Apfel-Terrine und ein Steinpilz-Salbei-Risotto. Wein, nicht viel, aber schon. Artus‘ Wein, der richtig gute, der mir immer das angenehm unangenehme Gefühl gibt, den Wein nicht so wertschätzen zu können, wie Artus es verdient hätte, weil ich einfach keine kultivierte Weinkennerin werden will. Jetzt auf dem Sofa ein angenehm pelziges Aroma aus Knoblauch und Tanninen im Gaumenhintergrund. Immerhin, für so viel Geschmackswahrnehmung habe ich dann doch noch Worte. Die Frucht vorne auf dem Rechner schimmert schemenhaft durch einen Aufkleber hindurch. Markus hat ihn dahin geklebt. Den Aufkleber haben wir damals im Ars Electronica Center in Linz von so einem High-Tech-Drucker machen lassen, mit den Silhouetten von Markus und mir. Aufkleber auf Laptops sind ja so Statusanzeiger, wie Slogans auf T-Shirts. Geschmacklos und profilneurotisch also. Sage ich ihm aber nicht. Der Partner hört im Arbeitszimmer Musik, die hier auf dem Sofa im Halblicht noch verschwommen ankommt. Musik oder vielmehr das, was der, nun ja, auch was die Musik angeht öfter mal profilneurotische Partner so dafür hält. Er sagt, es sei John Cage und ein präpariertes Piano. Hier auf dem Sofa klingt es eher so, als würde er Besteck spülen. Wobei dann auf das Verhältnis von Handlungsfaden und Kontext besonders geachtet werden muss, sage ich meinen Damen im Kurs ja auch immer. Was sollte dann dieser unausgewogene Brei mit dem Sofa nun wieder? Gute Frage. Drei Tage Holland 1971. Kirchenvorstand. Irgendwie eine andere Welt, als die hier auf dem Sofa. Ich versuche eine Verbindung herzustellen. Weil es ein moralisches Dilemma ist. Weil ich versuche, meiner Oma ein Denkmal zu setzen, indem ich unsere Begegnungen zu Miniaturen des Alltags stilisiere (unglaublich, bei der Formulierung „Miniaturen des Alltags“ tauchen gerade Carver, Strindberg und DeLillo im Hintergrundrauschen auf, was für eine Unverschämtheit, auch nur solche Gedanken zu haben, und dann auch noch hier zu schreiben) und dabei sicher bin, dass sie sich in Grund und Boden schämen würde, wenn sie das hier je läse. Wenn sie mich aber verstehen könnte, würde sie sich sicher nicht schämen. Dann wäre sie so stolz, wie sie es verdient hat. So stolz, wie sie sein sollte. ‚Drei habe ich schon unter die Erde gebracht, glaubst du's?’ Diese drei: Den jüngsten Sohn, Heroin. Den Ehemann, Lungenentzündung. Die Tochter, Tabletten und Alkohol. Und da sitzt sie immer noch. Hinter ihrem zerbröselten Tortenboden mit den Dosenpfirsichen und der buttrigen Sahne. ‚Da hat mich dein Vater auf den Geschmack gebracht. Ich lass mich nicht beerdigen. Ich lasse mich verbrennen. Das ist billiger.’ Das ist wahre Größe. Fast ein Jahrhundert. Kommt, lasst es uns verbrennen. Weil es die Verwandtschaft nicht so viel kostet. Da kann man sich in so eine Vase füllen lassen. Die wird dann in so ein Loch in einer Mauer gestellt und nebenan in den anderen Löchern sind dann noch so andere. Später kommt da dann vielleicht die Schwiegertochter und Stiefmutter rein, vor der ich immer weggelaufen bin und bei Oma und Opa Schutz gesucht habe. Lustige Vorstellung von der Vorhölle, oder ich schreibe mal vom Purgatorium, die Asche in der Vase da neben mir, mit dem Menschen, den ich in diesem Leben am wenigsten mochte. Und die steht dann bis in alle Ewigkeit neben mir. Meinen sie das vielleicht mit der Rede von der „Asche zu Asche“? Vermutlich. Dass der jüngste Sohn, der Ehemann und die Tochter weit weg auf einem Friedhof in einem anderen Teil des Landes beerdigt sind, wen interessiert das schon. Nicht die, die nach Oma kommen. Für die bleibt dann mehr Erbe, wenn die Oma sich verbrennen lässt. Wieso ich mich später nicht um ein ordentliches Begräbnis kümmere? Natürlich hat sie Besseres verdient. Es ist aber leider wie im richtigen Leben. Oma glaubt, dass es ihr eigener und vermutlich letzter Wille ist. Ludwik Fleck, der Denkstil, siehe oben. Sie glaubt das wirklich. Egal dabei also, dass ihr der Wille von meinem Vater und meiner Stiefmutter nur so fest eingetrichtert wurde, dass sie jetzt denkt, es sei ihr eigener. Wenn sie das glaubt, dann ist das so. Und dann soll es auch so sein. Schließlich hat sie keine Sterbeversicherung abgeschlossen, wie damals ihr Heroinabhängiger Sohn. Mein Lieblingsonkel, übrigens. Der war weitsichtig genug, sich gegen sein Ableben rechtzeitig zu versichern. Ein Junkie mit Sterbeversicherung, das lob ich mir. Schön, dass alle immer sagen, ich käme am ehesten nach meinem Onkel. Der wusste wenigstens, was er tat. Keine Suada, Edna. Darum geht es nicht. Und es soll nicht zynisch sein. Aber manchmal geht es halt nicht anders. Auch das ist eine Art von Nachsicht, mir gegenüber, die ich lernen will. Ich will nur ein Gefühl dafür bekommen, wann Ironie und Zynismus angebracht sind, palliativ sozusagen, wann ich mir diesen Denkstil gestatte, um einen Schirm zwischen mir und den Zumutungen und Absurditäten zu spannen. Und wann ich aus dieser Falle raus muss. Aber das wird mir jetzt zu persönlich. Eigentlich wollte ich nur den wirklich guten traurigen Witz mit meinem Lieblingsonkel und seiner Sterbeversicherung festhalten und dabei sind mir Ludwik Fleck und sein guter alter Denkstil eingefallen. Und da bin ich wohl ins Plaudern geraten. Wahrscheinlich kriege ich auch einfach nur das moralische Dilemma nicht gelöst und schweife ab. Was also, wenn Oma das hier lesen würde? Sie würde sich in Grund und Boden schämen. Und ich fange jetzt nicht noch einmal von vorne an.



Kommentare:

Liebe Edna,

wir Leser kennen ja Deine Großmutter nicht und Du tust alles andere als sie vorzuführen. Im Gegenteil. Ich sehe Deine Plotlinien als symbolisch an für die Art und Weise der Kommunikation zwischen Menschen aus verschiedenen kulturellen Generationen und im Besonderen zwischen jung und alt, wie unterschiedlich wir unser Leben führen, welche Motive wir haben, wie sich Ansichten verändern, was wir für wesentlich halten, wie sich die Qualität von Beziehungen und Zuwendung verändert.
Und dass Du dies in Dialogen darstellst, zeugt eher von besonderer Achtsamkeit als von einer Vorführabsicht. Dadurch werden die LeserInnen zu ZuhörerInnen, die noch nicht mal werten können, da sie ja wie gesagt Deine Großmutter gar nicht kennen, sondern nur abgleichen können, wie sie selbst mit ihren Großeltern/Eltern sprechen, schweigen oder wie auch immer kommunizieren.

Liebe Grüße - auch ans Dilemma, das sich leider nicht lösen lassen kann, denn sonst wär's ja keines mehr!

nele

PS. Woody Allens "Deconstructing Harry" (in Deutschland: "Harry außer sich") beschreibt einen Schriftsteller, der Romane schreibt, in die er seine Biographie samt seinen Ex-Frauen einbezieht und Verhaltensweisen, Beziehungen und Sexualität karikiert, wobei er gerade mal die Namen verändert - Das ist Vorführen!



Erstellt: 18. September 2012 – letzte Überarbeitung: 19. September 2012
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