BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Allein unter Menschen»
von Benjamin Erhard
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Ein kalter Sonntagnachmittag im Oktober. Eigentlich wollte ich schon seit Stunden am Ziel sein, aber der Regen erschwert das Vorankommen auf der kurvenreichen und stark befahrenen Landstraße. Kaffee-und-Kuchen-Besuchsverkehr.

Die verschlissenen Wischerblätter ziehen schmutzige Schlieren über die Scheibe und künden ärgerlich quietschend von ihrem Kampf mit den Wassermassen. Mein Magen knurrt. Vorhin, als der Regen noch schwächer war, hatte ich bei einigen Gasthäusern angehalten, die links und rechts der Durchgangsstraße lagen. Ohne Erfolg – sie öffnen erst am Abend.

Ein Hinweisschild auf ein Schnellrestaurant taucht auf. Noch 150 Meter, dann rechts. Erst kommt das Fressen, dann die Moral: Blinker ziehen, bremsen.

Der Parkplatz ist gut gefüllt. Sonntagnachmittag, um halb vier. Das habe ich nicht erwartet. Als ich das Gelände schon wieder verlassen will, leuchten die Rückfahrlichter eines Wagens auf. Einige Minuten später strebe ich mit hochgeschlagenem Kragen dem Eingang zu und versuche dabei, den Pfützen auszuweichen.

Beim Betreten schlägt mir eine Wolke warmer Luft entgegen. Es riecht nach Fett und durchnäßter Kleidung. In dem Raum herrscht ein ordentlicher Radau. Ein Kindergeburtstag tobt durch das Geschäft, zwischendrin drei junge Frauen, emsig bemüht, die Flohschar zu sortieren. Von den Vätern keine Spur, vielleicht haben die heute frei.

An einer gläsernen Infotafel wenige Schritte hinter dem Eingang studiere ich, was Küche und Keller zu bieten haben: Verschiedenste Kombinationen ein- und desselben, mit und ohne Getränke; alles mit bunten Bildchen illustriert – small, Large, EXTRA LARGE: Genießen Sie die Vielfalt.

Die Tür öffnet sich und ein Trupp Adoleszenter, allesamt uniformiert in Tommy Hilfiger Jacken, drängelt herein. Mein Standort scheint schlecht gewählt, und ich beschließe, ebenfalls zur Verkaufstheke vorzugehen.

In der Warteschlange stehen die Jungmänner von eben und geben bei einem unentwegt grinsenden Kollegen ihre Speisewünsche auf: «Für mich ein Soundsomenü, ein großes, klar? Und 'ne mittlere Pommes extra. Nachher kannste noch 'was Süßes holen, ne?» Der Nächste bitte: «Und mir bringste dann…» Jede Anweisung bestätigt der Angesprochene mit «Kein Problem.» oder «Na klar.» Der letzte in der Reihe verkündet: «Geil, daß Du uns einlädst. Siehste, Alter, geht doch!» Ein kerniger Schlag auf die wattierte Schulter, dann trollt sich die Gruppe in bester Laune zu einem der Tische an den Fensterscheiben.

Der Junge grinst nicht mehr. Er sieht plötzlich erschöpft aus und müde. Sehr müde. Ein rascher Blick hinüber zum Tisch, an dem die anderen warten. Dann öffnet er verstohlen sein Portemonnaie und prüft, ob er sich so viel Freundschaft leisten kann.

Gerade als ich meine Wünsche vortragen will, schießt ein Mann, bekleidet mit dunkler Hose, weißem Oberhemd und Krawatte, aus dem hinteren Teil des Frittiertraktes nach vorn zur Theke und baut sich vor der Angestellten an der Kasse auf. Ein glänzendes Schild an seiner Brusttasche weist ihn als «Restaurant Manager» aus.

Was ihr einfalle, herrscht er die Frau an, und warum sie sich über seine Anweisungen hinweggesetzt habe. Sie setzt zu einer Erklärung an, wird aber sofort unterbrochen. Davon wolle er jetzt nichts hören, schließlich gebe es Vereinbarungen und die habe sie einzuhalten. Punktum. Die Verkäuferin unternimmt einen neuen Versuch und möchte wissen, ob sie «den anderen Kunden» hätte warten lassen sollen. Der Manager meint, sie solle sich nicht seinen Kopf zerbrechen und gefälligst wieder an ihre Arbeit gehen.

Die junge Frau zittert leicht und hat rote Flecken am Hals. Ich halte es für eine glänzende Idee, sie aufmunternd anzulächeln. Als sie mich fragt, was ich wünsche, sieht sie mich verächtlich an – sie hat mein Lächeln anders aufgefaßt. Ich schäme mich, denke fieberhaft über erklärende Worte nach und bringe nichts über die Lippen. Das Tablett in der Rechten balancierend ergreife ich die Flucht.

Ich beiße in den lauwarmen Brocken und versuche mich des phantasievollen Namens zu erinnern, der auf der gläsernen Tafel steht – vergeblich. In der Zwischenzeit hat eine Familie am Nebentisch Platz genommen. Die Kinder sind im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Mutter verteilt die in dünnes Papier eingewickelten Fleischklopse, die Pommestüten, Pappschachteln und Getränkebecher. Sie wischt Münder ab, legt Cola-Seen trocken, die sich auf der Tischplatte gebildet haben, und schlichtet Streitigkeiten um bunte Plastikfiguren. Sie spricht schnell und gereizt und streicht fortlaufend eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Vater thront derweil am Kopf der Tafel und gibt den pater familias: Gelegentlich ein gestrenger Blick, ein kurzes Grunzen, ein drohend erhobener Zeigefinger. Mit gesundem Appetit arbeitet er sich durch den Verpackungsberg. Jetzt laßt doch den Vati 'mal in Ruhe essen, verdammt nochmal!

«Was machst Du denn hier?» Ein Mann mit Basecap steht im Gang und begrüßt lautstark einen Bekannten, offensichtlich ein Kollege: « […] und dann sagt der Idiot doch zu mir […] na, dem habe ich aber die Meinung gegeigt […] nur weil der jetzt die Treppe raufgefallen ist, braucht der nicht zu denken […]» «Wenn man mich 'mal fragen würde – und überhaupt: alles Idioten.» «Sie hatte keine Lust, uns was Schnuckeliges zu kochen, und da wollte ich 'mal nicht so sein, dann holen wir uns eben einen Burger, habe ich gesagt» Der Kappenträger deutet mit dem Zeigefinger auf die Frau neben sich. «Sie» lächelt tapfer. Danach nochmal alles von vorn. Arbeit, zwischendurch ein wenig Motorsport, zum Schluß wieder Arbeit. «Sie» schafft es immer noch zu lächeln. Nun mahnt er zum Aufbruch: «Sonst wird noch das Essen kalt.» Dann bis morgen in alter Frische. Er läuft zur Tür, zwei Schritte voran.

Rechts von mir unterhalten sich zwei Jugendliche über ihre Ausbildung und irgendeine bevorstehende Prüfung. Er habe noch nicht eine Seite gelernt, meint der eine großspurig, aber nächste Woche gehe es dann los. «Keine Frauen und keinen Alkohol» würde er in dieser Zeit anrühren, fügt er hinzu und bläst Rauchkringel in die Luft, «aber danach, Alter, danach gibt es kein Halten mehr!» Sie schlagen mehrmals mit der flachen Hand auf den Tisch. Sie amüsieren sich.

Ich stehe auf. Ich bin satt. Draußen angekommen, fühlt sich mein Kopf wie Watte an. Ich atme tief ein. Kalte, klare Luft. Und genau in diesem Moment fällt mir ein, was Indras Tochter in Strindbergs ‹Traumspiel› immer wieder sagt: «Es ist schade um die Menschen!»

Als ich den Zündschlüssel herumdrehe, höre ich erleichtert, wie der Motor anspringt.


Kommentare:

4. November 2002
Hallo Benjamin,
was anderes erwartest Du an einem solchen Ort? Edle Menschen, Klavierbegleitung, gepflegte Tischgespräche? Auch wenn Du Dich gezielt aus der moralischen Verantwortung nimmst: Du bist, wo Du ißt. Und, natürlich, was du ißt. Die gepflegte kulinarische Selbstinszenierung ist eines der letzten individuellen Bollwerke gegen die allgemeine kulturelle Verwahrlosung. Aber Du hast schon recht, es ist tatsächlich schade um die Menschen. Sie könnten wirklich anderes tun, als sich mit vorgekauten Fleischklumpen abspeisen zu lassen. Z.B ihr eigenes süß-saures Kürbissüppchen kochen.
Beste Grüße,
Peter

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7. November 2002
Hallo Peter,
sein eigenes Süppchen zu kochen und es auch auszulöffeln ist grundsätzlich bekömmlicher, als sich mit vorgekauten Brocken abspeisen zu lassen. Das gilt, da gebe ich Dir recht, auch in kulinarischen Angelegenheiten. Solche hatte ich, als ich den Text schrieb, aber weniger im Sinn. Nimm die kleinen Szenen einfach als das, was sie sind: Beobachtungen von Menschen im Jahre 2002.
Wie, die geschilderten Sprachskripte hätte ich demnach auch in der Keipe an der Ecke, im Supermarkt oder im Schwimmbad aufzeichnen können? An einem x-beliebigen Ort innerhalb eines x-beliebigen kommunalen Systems also? Siehst Du, nur befand ich mich an diesem verregneten Sonntagnachmittag in einem Burgertempel, und genau das habe ich berichtet. Daß ich den Ort der Geschichte nicht verlegt habe, sei meiner kümmerlichen Phantasie geschuldet.
Ein Wort zur moralischen Kategorie: Hast Du in Betracht gezogen, daß der Gebrauch des Brecht-Zitats über eine Form der Prinzipienschwäche spotten könnte, unter der manche Menschen, zu denen auch der Autor sich zählt, gelegentlich leiden? Personen jedoch, deren Handeln stets von einem unerschütterlichen moralischen Verantwortungsbewußtsein geprägt ist, sind von diesem feinen Spott, der, gemeinhin Ironie genannt, das Gegenteil dessen meint, was gesagt wird, ausdrücklich ausgenommen.
Erwartet habe ich an einem «solchen Ort» nichts, und befürchtet auch nicht. Die Alternative ‹desillusionierte Menschen, Dauerberieselung vom Band und restringierter Code› oder ‹edle Menschen, Klavierbegleitung und gepflegte Tischgespräche› ist nur eine scheinbare. In der bloßen Existenz von Schnellrestaurants erblickst Du «kulturelle Verwahrlosung» und forderst eine «gepflegte kulinarische Selbstinszenierung» des Einzelnen als letzte Gegenwehr. Stellen wir die kulinarische Frage jedoch vom Kopf auf die Füße und überlegen uns, wie es dazu kommt, daß Millionen von Menschen, vor die Entscheidung Klumpenfleisch oder Kürbissüppchen gestellt, nur mit Unverständnis reagieren würden, ja reagieren müssen, kommen wir zum Kern der Sache. Anders gesagt: Nicht der Umstand, daß Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, sollte Gegenstand der Empörung sein, sondern vielmehr die Vermutung, daß sie gar keine andere Wahl haben. Du bist, was Du ißt? Nein, Peter, Du bist der, zu dem Du gemacht wirst, was die Glücklichen mit den korrekten Tischmanieren und den korrekten Speisen auf dem Teller wohl noch nie interessiert hat. Aber das weißt Du ja bestimmt auch.
Mit bestem Gruß
Benjamin

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11. November 2002
Hallo Benjamin,
ich bin erklärter Gegner eines trivialen Marxismus, der es den Massen ordentlich bequem in ihrer Unterdrückung macht. Einer meiner Lehrer hat mir mal eine schöne Schleife in mein Denken gelegt, die ungefähr besagt: «Das Sein bestimmt das Bewußtsein, und das Bewußtsein bestimmt das Sein.» Letzteres würde ich an dieser Stelle betonen wollen. Ein großer Teil der ach so Ausgebeuteten trägt mir seinen bewußtlosen Mangel an Sein heute ein wenig zu offensiv in die Welt. Unter McDonaldisierung des Proletariats verstehe ich eine Art Selbststigmatisierung, aus der heraus es sich die Unterschicht erlaubt, sich so richtig daneben zu benehmen. In dieser Variante erkennt sich das Proletariat – zumindest bis zu einem gewissen Grad – als Proletariat. Anstatt aber solidarisch gegen die Verhältnisse anzugehen, legitimiert der vereinzelte Lumpenprolet mit seiner materiellen wie geistigen Armut plumpen Eigennutz. Ob hinter der konsumgeilen Vereinzelung ein Schachzug der oberen Schichten steckt, will ich nicht diskutieren. Wenn, dann sind die Herrschenden sicher von ihrer eigenen Strategie zerfressen. Obwohl das nicht wirklich ein Trost wäre.
Eins noch: Mit ironischer Distanz das Über-Ich ins Leere laufen lassen, um sich schäbig zu verhalten, ist das dreckige intellektuelle Pendant zur oben skizzierten schichtabhängigen Legitimation, Schwein zu sein. Ist übrigens eine meiner Kernkompetenzen, für die ich mich verachte, wenn ich ihrer bedarf. Deswegen habe ich mich vermutlich im ersten Kommentar ein wenig über Gebühr echauffiert.
Im Geiste brüderliche Grüße,
Peter



Erstellt: 29. Oktober 2002 – letzte Überarbeitung: 11. November 2002
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