BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die gemütliche Kammer am Ende der Welt»
von Bethchen B. & Helmut Hansen
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Des Lebens schönstes Geschenk
ist die Freiheit, die es dem Menschen läßt,
aus ihm zu scheiden, wann es ihm paßt.
(André Breton) [1] André Breton (1982): Jaques Rigaut (1899–1929). In: Riten der Selbstauflösung. Herausgegeben von Verena von der Heyden Rynsch. München: Matthes & Seitz, S. 227.

Idiosynkrasien

Die Leitsprüche seines 1976 erschienenen Buches «Hand an sich legen» [2] Jean Améry (1976): Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart: Klett-Cotta, 10. Auflage, 1999., mit dem wir uns hier eine Weile beschäftigen und über das wir dann hinausgehen wollen, hat Jean Améry im ‹Tractatus logico-philosophicus› von Ludwig Wittgenstein gefunden: «Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.» (Satz 6.43) und «Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.» (Satz 6.431).

Von hier ausgehend eröffnet Améry einen kreisförmigen Diskurs über die Innenperspektive von Menschen, die an Selbstmord denken, um Licht in die geschlossene Welt des Selbstmords zu tragen. Im Gegensatz zur verallgemeinerten Ansicht ist die Welt des individuellen Freitods für Améry weniger eine Welt des Wahnsinns, als vielmehr des individuellen Un-sinns. Ein derartig idiosynkratischer Raum soll für Außenstehende mit Hilfe von dialektischen Zweiwertigkeiten kaum auszuleuchten sein. Dennoch macht sich Améry auf diesen Weg und schreitet – so weit ihn die Sprache trägt – in die geschlossene Welt des suizidalen Un-Sinns hinein.


Widersprüchliche Freiheit

Améry will in seinem Essay nun keineswegs den Suizidär entschuldigen oder gar verherrlichen, weil es am Freitod selbstverständlich weder etwas zu entschuldigen, noch zu verherrlichen gibt. Der Suizidär weicht für Améry mit dem letzten Akt bewußt von den alltäglichen Konventionen, der Zentralrede des apriorischen Überlebenswillens ab, eine Handlung zu der grundsätzlich viel Kraft und Mut gehört. Nicht mehr und nicht weniger.

Améry versucht, die Situation bzw. die Gegebenheiten genau zu beschreiben, aus denen heraus sich eine individuelle Auflehnung gegen den gesunden Menschenverstand – mit seinen allfälligen existentiellen Durchhalteparolen (vgl. Abschied vom Sterben) – und gegen das Weiterleben entwickeln kann. Prinzipiell soll dabei keine Konfliktsituation notwendig sein, um den aus einem Bewußtsein des Scheiterns heraus wachsenden Lebensekel zu wecken. Schon die reine Erkenntnis der allzu widersprüchlichen condition humaine – Lebenswille kontra Todesneigung; Individuum kontra Kollektiv; Elend kontra Schönheit; … – kann die Gedanken an den Freitod auslösen. Zumeist ist es aber eine konkrete individuelle Krise, die den Menschen an den Gedanken, sich zu entleiben, heranführt.

Für Améry ist der Freitod der Weg ins Freie (eine dem gleichnamigen Roman Arthur Schnitzlers entlehnte Metapher). Es ist der Weg in eine Freiheit hinaus aus dem Dickicht der Krisen, Absurditäten und Widersprüche des Lebens. Améry ist sich dabei allerdings vollkommen darüber im Klaren, daß der Freitod selbst der letzte und größte Widerspruch ist. Denn natürlich führt dieser Weg ins Freie zu einer Form der Freiheit, die das Subjekt nie erfahren wird. Die letzte Handlung bedeutet zwar den Schritt heraus aus den Zwängen des Daseins, das befreite Subjekt selbst löst sich aber auf dem Gipfel der Freiheit auf. Nach Améry wird so im Augenblick des Freitods in der Freiheit und mit ihr zum Ende jeder Freiheit geschritten.

Auf einer existentialistischen Folie wird die Handlung des «Hand-an-sich-legens» so zum authentischen und exzessiven Ausdruck dafür, daß das Subjekt letztlich sich selbst gehört. Allerdings stellt Améry auch diese Pathosfigur durch einen sehr schönen Exkurs zum Problem des subjektiven Idealismus wiederum selbst in Frage, denn natürlich weiß das befreite Subjekt, daß seine Welt zwar endet, aber die Welt der Anderen als Ursprung des Freitods bestehen bleibt. Letztlich kann der Freitod demnach nie die unbedingte Handlung eines vollkommen freien Subjekts sein. Vielmehr ist gerade der Freitod immer eine bedingte Handlung, die sich wegen der Welt in der Welt gegen die Welt richtet. Der freie Tod als exzessive Bestätigung existentialistischer Freiheit erscheint so viel eher als ein platonisches Ideal, das sich im gegebenen Hier und Jetzt – wenn überhaupt – nur eingeschränkt verwirklichen kann.


Échec

Der Freitod bleibt trotz seiner wesentlichen Unfreiheit für Améry ein humaner Akt subjektiver Würde und Selbstbestimmung. Für ihn ist der Freitod ein legitimer Ausdruck des Scheiterns (frz. échec). Das drückende Gefühl persönlichen Scheiterns wird zur Triebfeder für eine Todesneigung, einen Todeswunsch und Lebensekel, der bei Améry wohl im Sinne eines Freudschen ‹Todestriebs› verstanden werden muß. Die latent immer vorhandene, aber meist erst durch den ‹échec› ins Leben gerufene Todesneigung soll allein aufgrund einer umfassenden gesellschaftlichen Ächtung nicht zur breiteren Entfaltung kommen.

Durch die Tabuisierung dieser Todesneigung ist ihr Zugang den meisten Menschen verschlossen, so daß es meist erst des Einbruchs elementarer Ereignisse bedarf, um diese Neigung zu entfalten. Durch die soziale Tabuisierung der nun über sie hereinbrechenden Todesneigung ist das Individuum ihrem Sog nackt und hilflos ausgeliefert, so daß sich die Todesneigung leicht zu einer zwanghaften Obsession ausweiten kann. Um diesen verzweifelten Grundton kreisen die Betroffenen von nun an in einer endlosen zirkulären Schleife, die immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt, ohne die Anfangsbedingung – die Apperzeption des Scheiterns – zu verändern.

Der Suizidär verliert sich in dieser Schleife, die den dunklen Raum vor dem Absprung markiert. Die Schleife der Verzweiflung wird im Laufe der Zeit immer schneller durchlaufen, das Weiterleben wird immer schwieriger, der dunkle Raum wird immer kleiner und drückender, bis schließlich die Enge so unerträglich wird, daß nur noch die letzte Handlung – der Suizid – als Ausweg gesehen wird.


Cafard

Und an dieser Stelle kommt endlich unser Einwand. Wir denken, daß der Weg ins Freie auch ohne die letzte Handlung des Hand-an-sich-legens im Leben selbst gefunden werden kann, indem wir das Scheitern nicht als auswegloses existentielles Dilemma, sondern mit E. M. Cioran als das Wesentliche im Leben begreifen. Cioran, unser Kundschafter auf den Trampelpfaden des Scheiterns, hat mit dem ‹cafard› ein Prinzip erfunden, welches dem ‹échec› sehr schön entgegengestellt werden kann. [3] E. M. Cioran (1998): Cafard. Originaltonaufnahmen 1974–1990. Herausgegeben von Thomas Knöfel und Klaus Sander. Köln: supposé.

Der ‹cafard› bezeichnet einen gegenstandslosen, auf nichts gerichteten Mißmut. Während die sich aus dem ‹échec› entwickelnde Todesneigung bei Améry nahezu triebhaft gegeben sein soll und sich wesenhaft auf verdinglichende, reifikatorische Vorstellungen des Lebens gründet, ist der ‹cafard› existentiell ziellos und betont gerade die Substanzlosigkeit aller Dinge. Außerdem offenbart der ‹échec› durch seine emotionale Qualität noch jene leidenschaftliche Bindung an die Welt, die ihr letztlich die überhöhte Bedeutung gibt, die die Welt erst wichtig genug macht, um sie verlassen und vernichten zu wollen. Sich dem drängenden Gefühl des persönlichen Scheiterns ausgeliefert zu fühlen, zeigt ja gerade, daß die eigene Person, die anderen Menschen und die Welt im Allgemeinen allzu wichtig genommen werden. Der Suizid erscheint auf dieser Basis als die finale Betonung der eigenen Wichtigkeit.

Als Kontrast zu dem auf konkrete Ziele gerichteten ‹échec› impliziert der gegenstandslose ‹cafard› die Annahme des Scheiterns als Grunderfahrung des Lebens. Der ‹cafard› entzieht dem allgemeinen Scheitern den Leidensdruck und nimmt dem individuellen Scheitern den verzweifelten Grundton. Um diese Ziellosigkeit zu erreichen, müssen wir uns in einem ersten Schritt aus dem Zentrum der Welt nehmen und endlich aufhören, uns selbstverliebt als den Nabel der Welt zu betrachten. Irgendwann werden dann die eigene Person, die anderen Menschen und die Welt von selbst so unbedeutend, daß eine derart pathosgeladene Handlung wie der Freitod sich selbst ad absurdum führt.


L'absurde? On s'arrange

Die Erhöhung des Scheiterns zum Lebensprinzip und die Betrachtung der Welt als substanzarm sind natürlich – wie auch schon der Eindruck des ‹échec› – eine unmittelbare Reaktion auf die Absurditäten des Daseins. Während aber der Suizidär die Widersprüche nur dadurch auflösen kann, indem er sich selbst aus der Welt schafft, beseitigt das vom ‹cafard› getragene Subjekt die Welt in sich, indem es sie für nichtig erklärt. Vor dem Absprung in den Freitod führt das zum Prinzip erklärte Scheitern so im Leben einen Schritt weiter in den dunklen Raum vor dem Abgrund. Das scheiternde Subjekt richtet sich in diesem Raum ein und findet schließlich eine Heimstatt. Die Depression ist so kein Endpunkt, sondern wird zu einem Stadium innerhalb eines Prozesses, des Lebensprozesses, der Aufgabe zu leben.

Um es mit Kierkegaard zu sagen: Die Depression selbst ist ein Stadium auf einem Lebensweg, der uns, bis an sein Ende geschritten, letztlich bis zum Sprung ins Absurde führt. [4] Vgl. die Ausführungen zum Moralbegriff Kierkegaards in: Allan Janik und Stephen Toulmin (1998): Wittgensteins Wien. Wien: Döcker Verlag, S. 189ff.Während der Suizidär den verzweifelten, rein zirkulären Kreislauf nur durchbrechen kann, indem er ihn und damit sich selbst endgültig zerstört, betritt das vom ‹cafard› erfüllte Subjekt leichten Schrittes diesen Raum und transformiert so den suizidalen Kreislauf. Die geschlossene Zirkularität, das ewige verzweifelte Kreisen verwandelt der ‹cafard› in eine offene Rekursivität, einen evolutionären Prozeß; eine einwärts gerichtete Spirale. Das gefällt uns sehr!


Heiteres Scheitern

Erklären wir das Scheitern und seinen ‹cafard› also zum vitalen Prinzip, das uns gemeinsam mit Cioran fast ebenso wichtig ist wie der Tod. Und: Ein als existentiell begriffenes Scheitern kann vor dem endgültigen Schritt in den Tod bewahren. Der düstere Raum am Ende der Welt, in den der Suizidär eingeschlossen war, öffnet sich durch die unendliche Poesie des Scheiterns [5] E. M. Cioran (2001): Cahiers 1957–1972. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33. und wird zu einer gemütlichen Kammer, ja zu einem fruchtbaren Treibhaus für das Leben selbst.

Wann immer wir am Leben verzweifeln, können wir uns in die Kammer zurückziehen, um in diesem eigen-sinnigen Raum jenseits der Zentralrede unserer Tragik den Ernst zu nehmen. Statt uns vollständig zu vernichten, vervielfältigen wir uns lieber. Denn alles ist möglich: Dort, im alltäglichen Treiben mit seinen aufdringlichen Forderungen, Hoffnungen und Dummheiten lastet das Leben schwer auf uns. Hier, in der gemütlichen Kammer am Ende der Welt, nimmt die Einsicht, daß in diesem Leben ohnehin fast alles Scheitern und Täuschung ist, dem Leben sein Gewicht. Und schenkt uns eine spielerische Leichtigkeit.



Erstellt: 20. Februar 2001 – letzte Überarbeitung: 8. Februar 2002
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