BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bleib mir vom Leib»
von Stefan Bärnwald
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Für Pete (1960–2002)

Machen wir ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, eine geschätzte Bekanntschaft habe sich erlaubt, ihren Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen. Ihr Freitod kam nicht unerwartet, trotzdem bringt uns die Nachricht aus der Fassung. Wie reagieren wir auf die Todesbotschaft? Wenn das erste emotionale Durcheinander aus Unverständnis und Trauer abebbt, drängen sich vermutlich eine Reihe von Fragen auf, die wir uns nahezu automatisch bei jedem Freitod von neuem stellen, um irgendwie das irrationale Loch in unserer Gedanken- und Gefühlswelt zu stopfen. Einigen dieser Fragen möchte ich kurz nachspüren, um sie selbst ein wenig besser zu verstehen.

Es beginnt vermutlich mit der einfachen Frage nach dem ‹Warum?›, denn jeder Tod konfrontiert die Überlebenden mit ihren eigenen Sinnfragen, und stellt das eigene Weiterleben in Frage. Normale Menschen beantworten die Frage nach dem ‹Warum?› mit einer gewissen Leichtigkeit: Gesucht wird nach Gründen, die in die besonderen Persönlichkeitseigenschaften und die besonderen Lebensumstände des Suizidärs verlagert werden können, um den Freitod so weit wie möglich aus dem Bereich des Möglichen zu verweisen. Je idiosynkratischer der Ursachenkomplex, desto besser, denn so bleibt der Freitod die Handlung eines verzweifelten Vereinzelten, der fern der Normalität der Welt Lebewohl sagte. Menschen, die selbst mit einer leichten Todesneigung geadelt sind, haben demgegenüber die Tendenz, genauso ungebührlich und willkürlich nach Gemeinsamkeiten zu suchen, um sich mit dem Selbstmörder zu identifizieren. Während der gesunde Menschenverstand den Suizidär also ausgrenzt, wird er von seinen Brüdern und Schwestern im Geiste zur Selbstinszenierung vereinnahmt. Beide Reaktionen sind unangemessen, weil – natürlich – der Freitod eine maßlose Handlung ist, und die Beantwortung des ‹Warum?› allein ein hilfloses Bemühen ist, die irrationale Tat für die Vernunft greifbar zu machen.

Da dieser Versuch notwendig scheitern muß, bleibt nur die Flucht in die moralische Selbst- und Fremdkasteiung. Ein Dickicht aus Schuldzuweisungen legt sich post mortem über das soziale Umfeld des Suizidärs, und die Hinterbliebenen unterscheiden sich allein darin, ob sie in erster Linie sich selbst, den Anderen, oder sich selbst und den Anderen Vorwürfe machen. Im Zentrum steht die Frage, ob die Tat hätte verhindert werden können, und, wenn ja, wie und durch wen. Die ‹Schuldfrage› ist natürlich noch weniger zu beantworten als die Frage nach der Ursache, denn Schuld ist zuallererst ein vollkommen unbrauchbarer Scheinbegriff. Und wenn wir ihn trotzdem benutzen wollen, trägt die Verantwortung für die Tat allein der Suizidär, der selbstbestimmt aus dem Leben geschieden ist. Klüger als die Frage, ob der Freitod hätte verhindert werden können, erscheint mir die viel zu selten gestellte Frage, ob der Freitod überhaupt hätte verhindert werden sollen. Wer will sich die Bürde – die Schuld – auflasten, dafür verantwortlich zu sein, daß sich ein Mensch mit Hilfe sozialer Krücken trist und verwelkt durch das Leben schleppt? Die Verantwortung dafür erscheint mir ungleich größer, als zu wenig für das Überleben des Suizidärs beigetragen zu haben.

Was bleibt also, wenn Vernunft und Moral kaum Unterstützung bieten? Die Frage nach dem ‹Wie?› ist vermutlich der letzte Versuch, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen. Eigentlich fällt mir zu dieser Frage nichts ein, mir erschließt sich ihr Sinn nicht. Was nützt das Wissen um das ‹Wie?›, wenn wir nicht banale tiefenpsychologische Schlüsse aus der Todesart ziehen wollen? Wäre es nicht vielleicht besser, gar kein Bild von der eigentlichen Szenerie des Selbstmords zu haben? Was ich in der Frage nach dem ‹Wie?› an positivem sehe, ist der Wille der Nachwelt, sich dem Bild des Suizidärs zu stellen, ohne sich den Tod durch rationale oder moralische Sublimierung vom eigenen Leib zu halten. Vielleicht ist es gerade ihre Sinnlosigkeit, die die Frage nach dem ‹Wie?› bedeutsam macht: Alle rationalen und moralischen Versuche, den Freitod greifbar zu machen, sind von Grund auf zum Scheitern verurteilt, und der Nachwelt bleibt nicht mehr, als sich in dem sinnfreien Vakuum einzurichten, das der Suizidär hinterläßt.



Erstellt: 16. April 2002 – letzte Überarbeitung: 16. April 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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