BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ode an die Langeweile»
von Albertine Devilder
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Ich bin immer sehr verwundert, wenn Menschen sagen, sie würden sich langweilen, etwas würde sie langweilen oder etwas hätte sie gelangweilt, denn ich langweile mich nie. Ja ich bin sogar «superglücklich», wenn nichts vor mir steht, was ich tun müßte, wenn ich also lange Zeit habe, für mich. Und so frage ich mich dann angesichts der Gelangweilten regelmäßig: «Ach, was ist denn da nur los? Ja, worunter leiden sie denn?» Schauen wir hin.

Eine Weile ist eine Zeitspanne. Die kann kurz oder lang sein. Geschieht in einer kulturell definierten und brav subjektiv nachempfundenen Zeitspanne ‹viel›, handelt es sich um eine kurze Weile voller Kurzweil, geschieht nur ‹wenig› oder nichts, wird die Weile lang. Wir haben dann die kommunale Erlaubnis, die behördliche Genehmigung, von Langeweile zu sprechen.

Und die Langweile, die Langeweile oder die lange Weile ist – so der Volksmund als Sprachrohr unserer Leitkultur – eine Mißempfindung, ein unangenehmes, ein als lästig empfundenes Gefühl von Eintönigkeit, Ödheit, Ödnis und Leere, aber auch ein Zustand des Nichtausgefülltseins, des unfruchtbaren Leerlaufs, des «Standby». Offensichtlich ist da jemand mit sich allein und weit und breit keine Hilfe. Langeweile entsteht – so des Volkes Mund – aus Mangel an Abwechslung, Anregung, Unterhaltung: «No action, no satisfaction». Die neo- oder postmoderne Langeweile scheint somit nichts anderes zu sein als eine Zeitspanne ohne Stimulation von außen. Oder ein Zeitraum, in der die Stimulation von außen eben nicht mehr genügt: «Alles» ist dann schal, leer, hohl, unbefriedigend, eben langweilig.

Wenn wir dies geringfügig anders beleuchten, wird deutlich, um was es bei der endemisch zunehmenden Langeweile in der Postmoderne geht. Obacht: Jemanden zu langweilen bedeutet, bei jemandem Langeweile, also ein Gefühl des Überdrusses hervorzurufen, für jemanden uninteressant, nicht anregend, nicht unterhaltsam zu sein. Beziehen wir das mal auf die Person, die sich mit sich selbst langweilt: Sie ist sich selbst ein Langweiler, sie ruft bei sich selbst, aus sich selbst heraus, ein Gefühl des Überdrusses hervor, sie ist sich selbst uninteressant, sie findet sich selbst nicht unterhaltsam, sie regt sich selbst nicht an, ja sie hält sich selbst für öde, temperamentlos und monoton. Ihr Ich genügt ihr nicht. Sie braucht Anregung von außen.

Wie kommt das? Wieso kann sie nicht bei sich sein? Warum muß sie so lange und so intensiv die Zeit totschlagen, bis es keine Zeit mehr gibt, bei sich zu sein? Hilft uns Karl Kraus, der ‹Kardinal› von Wien weiter? Immer: «Wie souverän doch ein Dummkopf die Zeit behandelt! Er vertreibt sie sich oder schlägt sie tot. Und sie läßt sich das gefallen. Denn man hat noch nie gehört, daß die Zeit sich einen Dummkopf vertrieben oder totgeschlagen hat.» (In: Die Fackel Nr. 256, S. 15/16, vom 5.6.1908). Ja aber, meine Herrschaften, langweilen sich denn nur Dummköpfe? Eugène Fromentin sagt dazu: «Langeweile befällt nur hohle Köpfe und fühllose Herzen.» Oh je! Ist Langeweile da, wo sonst nichts ist?

Was also ist los mit den wilden, intensiven, gefühlsausdrucksstarken Menschen der Postmoderne, wenn sie sich wieder einmal langweilen? Sind sie einfach nur dumm, hohl, leer, ein Nichts? Tja, auf einmal stehen sie da, irgendwo, irgendwie und irgendwann, der Computer ist eingeschaltet, die Stereoanlage ist an, das TV läuft, das Telefon klingelt und … sie lassen es klingeln, und wissen nichts mehr anzufangen mit sich und der Welt. Bestenfalls werden sie dadurch auf sich selbst zurückgeworfen, und dann geht's eben los. Sie könnten sich doch die eben gekaufte angesagte neue Jacke angucken. Oder die angesagten Talkshows, oder, oder. Aber sie tun es nicht. Die Langeweile lähmt sie. Sie kriegen Angst. Angst vor der Sinn- und Zweckfreiheit des eigenen Tuns. Es schnürt ihnen den Hals zu. Der Magen tut weh. Die Welt steht still: Denn jetzt erwartet sie das «Mit sich selbst beschäftigen müssen». Grausam: Sie stehen auf einmal sich selbst gegenüber und kriegen eine Ich-Agoraphobie: Der Marktplatz ihres Ichs ist leer, schrecklich leer, entsetzlich leer. Und darüber zu gehen ist unmöglich. Und sie sehen nichts von sich. Sie sehen sich nicht. Sie spüren sich nicht. Milchglas ringsherum, Ganzkörperanästhesie. Sie kommen sich dumm vor. Aber sie sind nicht aus sich heraus dumm, sie wurden dumm gemacht. Sie sollen ja gerade die Unruhe, das Alleinsein spüren, damit sie alle eingeschalteten Selbstreferenzunterbrecher wieder beachten, endlich und immer wieder beachten, sich an ihnen orientieren und klaglos wieder funktionieren: «Hallo! Du bist nicht allein!»

Bethchen guckt mir gerade über die Schulter und sagt, das sei vermutlich alles zu idealistisch gedacht. Denn das «Mit sich selbst beschäftigen» sei eine aussterbende Denkungsart, weil dieses individuelle Selbst, dieses romantische, allumfassende, ja pantheistische «In der Welt Sein», dieses stolze Vorwölben einer Person in allernächster Zukunft nicht mehr als Gegensatz zu einem fremdbestimmten Kollektiv, das durch Medien und Konsum zusammengeschweißt wird, gedacht werden könne. Ob Bethchen Recht behalten wird?

Und Langeweile, bzw. «Zeit» zu haben, ist ja jetzt schon eine Art soziales Verbrechen. Wir müssen ausgefüllt sein von Fremdbestimmung, von Fremdaufträgen, wir sollen gerade nicht bei uns sein. Da könnte ja mal was entstehen, was den spin-doctors unserer Leitkultur gar nicht gefallen würde, eine selbstreferentielle Konvergenz, ein durch eine Kontemplations-Sammellinse gebündelter Lichtstrahl auf unser Ich, eine Identität, welche sich und ihre Gummibänder, die es an die Kultur kleben, in Muße reflektiert. Gefährlich, verdächtig.

Denn Langeweile birgt ein ganz großes Potential, sie kann zum blinden Fleck im sinnlosen Rauschen der Dinge werden. Sie kann uns anregen, die Dinge, die Welt und uns selbst zu erklären und in Sprache einzuwickeln. Denn: «Der Philister langweilt sich und sucht die Dinge, die ihn nicht langweilen. Den Künstler langweilen die Dinge, aber er langweilt sich nicht.» (Karl Kraus in: Die Fackel Nr. 241, S. 1, vom 15.1.1908) Laßt uns also Künstler werden! Laßt uns die Langeweile suchen und verehren! Ein Hoch auf die Langeweile! Lang lebe die lange Weile! Hochverehrte Prinzessin von der Langeweile, ich liege Ihnen zu Füßen und küsse den Saum Ihres Kleides!

Und dann stellen wir uns vor, wir seien ein kleiner Weiler, eine aus wenigen Gehöften bestehende kleine Ansiedelung, in deren physischer Hülle wir eine lange Weile verweilen und in der es sich – dank der Langeweile – trefflich leben läßt. Sogar ein kleiner Weiher im Weiler ist da, der uns zum langen Verweilen einlädt. Dieser Weiher im Weiler ist eine von uns zu erfindende, zu gestaltende, mit Leben zu erfüllende Besonderheit unserer Person, ein Treffpunkt unseres Glücks, unserer Liebe und der Gnade, die wir erfahren. Denn wir genügen uns, wir können gut bei uns verweilen. Und alles wird gut.



Erstellt: 20. November 2000 – letzte Überarbeitung: 20. November 2000
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